Vollgeld: Was würde ein Systemwechsel bringen?

Am 10. Juni stimmt die Schweiz über die Vollgeldinitiative ab. Für die Stimmbürger stellt sich die Frage, ob sie die Kreditwirtschaft künftig stärker durch die Schweizerische Nationalbank (SNB) lenken lassen möchten. Die Annahme der Initiative würde auch die Geldpolitik grundlegend verändern.

Die Kosten von «Bail-Outs»

Die Initiative ist massgeblich motiviert durch das Unbehagen gegenüber den Grossbanken und ihrer Rolle bei Finanzkrisen. Dies ist nachvollziehbar – besonders im Zusammenhang mit der Hypothekenkrise in den USA und der Eurokrise. Die Kosten für die Rettung des Finanzsystems und die Konjunkturpakete trugen in erster Linie die Staaten (und somit die Steuerzahler) – und nicht die betroffenen Banken. So hat sich die Staatsverschuldung der USA zwischen 2008 und 2017 von 63 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf 103 Prozent erhöht. Für die Eurozone resultierte ein Zuwachs von 67 auf 87 Prozent des BIP.

In der Schweiz war die UBS zwischenzeitlich auf staatliche Unterstützung im Umfang von 45 Mrd. Franken angewiesen. Dies entspricht 8 Prozent der Schweizer Wirtschaftsleistung. Die SNB und der Bund konnten die aufgewendeten Mittel glücklicherweise aber wieder zurückgewinnen und letztlich sogar einen Gewinn von fast 5 Mrd. Franken erzielen.

Lehren aus der Finanzkrise

Die Finanzkrise hat verschiedene Schwachstellen im Finanzsystem aufgezeigt. Die Notenbanken (allen voran das Fed) hatten die Leitzinsen nach dem Platzen der «Dot Com-Blase» zu lange zu tief gehalten. In Europa hatte die Einführung des Euro einen starken Rückgang der Risikoaufschläge bei schlechteren Schuldnern zur Folge. In den USA und in einigen Ländern der Eurozone haben die Banken vor der Krise zu sorglos Kredite vergeben und zu wenig Eigenkapital zur Absorption von Verlusten gehalten. Vor allem bei Grossbanken setzte die implizite Staatsgarantie aufgrund ihrer Systemrelevanz Fehlanreize. In der Schweiz geriet die UBS in Schieflage, weil sie in grossem Umfang verbriefte Kredite aus den USA und der Eurozone erworben hatte. Von Schweizer Krediten ging dagegen keine Gefahr aus.

Sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene wurde in den letzten Jahren einiges unternommen, um diese Schwachstellen zu beheben. Über verschärfte Eigenkapital- und Liquiditätsvorschriften wurde die Widerstandskraft der Banken gestärkt. Auch der Kundenschutz wurde verbessert. Im Rahmen der «Too big to fail»-Regulierung hat die Schweiz die Risiken, die von systemrelevanten Banken ausgehen, eingedämmt. Für diese Institute gelten künftig noch strengere Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen als für die übrigen Banken. Ausserdem müssen die betroffenen Grossbanken (UBS, Credit Suisse, ZKB, Raiffeisen, PostFinance) einen Notfallplan für die Weiterführung von systemrelevanten Dienstleistungen vorweisen. Damit sollen die potenziellen Kosten für den Staat, die durch die übermässige Risikofreude von Banken entstehen können, minimiert werden. Eines der Hauptprobleme im «Fall UBS» war, dass rund 128 000 KMU-Beziehungen und – einschliesslich Privatkunden – drei Millionen Konten von einem Konkurs betroffen gewesen wären.[i] Dies soll künftig vermieden werden.

Den Initianten der Vollgeldinitiative gehen diese Massnahmen zu wenig weit. Sie sehen in der Kreditvergabe der Banken und der damit verbundenen Geldschöpfung ein latentes Risiko. Banken können die Geldmenge mittels Krediten an Kunden ausdehnen und dabei sogenannte Geldschöpfungsgewinne erzielen. Diese entsprechen der Differenz zwischen den Zinserträgen und den anfallenden Kosten einschliesslich der Verzinsung des Eigenkapitals. Banken finanzieren damit u.a. übrige Geschäftsbereiche wie den Zahlungsverkehr. Aus einer übermässigen Kreditvergabe können Bankenkrisen entstehen, welche die Zahlungsverkehrs- und Lohnkonten von Unternehmen und Privatpersonen in Mitleidenschaft ziehen. Die gegenwärtige Einlagensicherung bietet aus Sicht der Initianten zu wenig Schutz. Sie deckt nur Beträge bis zu einer Obergrenze von 100 000 Franken ab. Zudem ist der Maximalbetrag gegenwärtig auf 6 Mrd. Franken begrenzt. Dies entspricht 1,4 Prozent der gesicherten Einlagen.

Mehr Einfluss für die SNB und die Politik

Die Initiative will deshalb, dass das Kreditvolumen in Zukunft durch die SNB gesteuert und die Geldschöpfung der Banken unterbunden wird. Die Banken müssten jeden Franken, den sie als Kredit vergeben, zuerst beschaffen (z.B. über Einlagen von Kunden oder über Kredite von der SNB). Dies würde die Flexibilität der Banken bei der Kreditvergabe erheblich einschränken. Ausserdem würden die Geldschöpfungsgewinne nur noch bei der SNB anfallen. Dies hätte vermutlich zur Folge, dass die Banken die Kosten für Dienstleistungen stärker auf die Kunden überwälzen.

Zusätzlich verlangt die Initiative, dass Zahlungsverkehrskonten der Kunden fortan ausserhalb der Bankbilanzen geführt werden. Die Banken hätten keinen Zugriff mehr auf diese Einlagen und könnten sie nicht mehr für das Aktivgeschäft verwenden. Diese Konten würden nicht in die Konkursmasse fallen. Dadurch wäre sichergestellt, dass sie bei einer Bankenkrise nicht tangiert werden. Im Gegenzug würden Zahlungsverkehrskonten auch nicht mehr verzinst. Die Kunden hätten aber nach wie vor die Möglichkeit, Geld zinstragend auf einem herkömmlichen Sparkonto auf der Bank zu belassen. Diese Mittel würden im Krisenfall weiterhin in die Konkursmasse fallen. Bei ihnen käme die Einlagensicherung zur Anwendung.

Auch die Geldpolitik der SNB würde grundlegend verändert. Die SNB würde Geld künftig schuldfrei in Umlauf bringen. Sie würde Schweizer Franken somit unentgeltlich an die öffentliche Hand und die Bevölkerung verteilen. Dies würde Begehrlichkeiten wecken und hätte unweigerlich eine stärkere Einflussnahme der Politik auf die SNB zur Folge. Bis anhin versorgte die SNB die Wirtschaft mit Geld, indem sie beispielsweise Kredite vergab oder Vermögenswerte erwarb. Jedem Franken, den die SNB in Umlauf gebracht hat, steht in der SNB-Bilanz ein Aktivum gegenüber. Bislang konnte die SNB die Geldmenge wenn nötig reduzieren, indem sie Anlagen wieder veräusserte oder Kredite auslaufen liess. Dies wäre künftig nicht mehr möglich, denn verschenktes Geld kann man nicht zurückfordern.

Lohnt sich die Umstellung?

Damit stellt sich die Frage, welches System langfristig mehr Nutzen für die Gesellschaft bringt. Die offensichtlichsten Vorteile eines Vollgeldregimes wären, dass Zahlungsverkehrskonten im Falle einer Finanzkrise nicht mehr gefährdet wären: Jeder Kunde könnte sichergehen, dass ihm sein Geld vollumfänglich erhalten bleibt. Finanzkrisen könnten hingegen kaum verhindert werden.

Im Hinblick auf die übrigen Änderungen sind die Meinungen geteilt. Hinsichtlich der Kreditversorgung ist sehr fraglich, ob Vollgeld einen Zusatznutzen bringen würde. Vollgeld-Befürworter führen vor allem zwei Argumente ins Feld: Erstens verstärke die Kreditvergabe mittels Geldschöpfung wirtschaftliche Zyklen und destabilisiere die Volkswirtschaft. Zweitens würden Kredite vermehrt für spekulative Zwecke statt für produktive Investitionen vergeben. Beide Argumente sind in einer internationalen Perspektive nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Vielen Finanzkrisen ging ein hohes Kreditwachstum voraus, und fremdfinanzierte Finanzanlagen haben wiederholt zur Destabilisierung von Finanzmärkten beigetragen.

Für die Schweiz sind diese beiden Effekte jedoch kaum nachweisbar. Hierzulande hat das Kreditvolumen in den letzten zwei Jahrzehnten zwar stetig zugenommen. Trotz teilweise ultralockerer Geldpolitik der SNB war die Entwicklung aber weitgehend linear. Im Hypothekarbereich hat die Verschärfung der Regulierung einer noch stärkeren Ausdehnung der Volumina entgegengewirkt. Bei Firmenkrediten war die Nachfrage indessen schlicht limitiert. Die Banken können Kredite letztlich nur gewähren, wenn die Nachfrage der Kunden vorhanden ist. Die Schweizer Wirtschaft ist weniger kapitalintensiv geworden, ausserdem können sich grössere Unternehmen zu sehr attraktiven Konditionen direkt am Kapitalmarkt refinanzieren. Man kann folglich nicht erwarten, dass die Anlage- und Infrastrukturinvestitionen in einem Vollgeldregime stark zunehmen würden. Denn die Banken haben die Unternehmenskredite nicht vernachlässigt. Im Gegenteil: Im Firmenkundengeschäft herrscht ein intensiver Konkurrenzkampf um Kunden.

Eine weitere wichtige Änderung beträfe die Geldpolitik der SNB. Zum einen würde die SNB künftig wieder ein Geldmengenziel verfolgen und von der Zins- bzw. Inflationspolitik abrücken. Im Idealfall würde sie die Geldmenge jährlich um einen konstanten Prozentsatz ansteigen lassen. Zum anderen würde Notenbankgeld künftig schuldfrei in Umlauf gebracht. Die Wechselkurssteuerung würde dadurch verunmöglicht, denn die SNB könnte keine umfangreichen Devisenkäufe mehr tätigen (dies wäre keine schuldfreie Ausdehnung der Geldmenge).

Im Falle einer Flucht in sichere Häfen könnte sie die Geldmenge somit nicht mehr zusätzlich erhöhen, um den Franken zu schwächen bzw. der gestiegenen Nachfrage nachzukommen. Denn diese Überschussliquidität könnte später nicht mehr abgeschöpft werden und würde irgendwann inflationär wirken. Falls die SNB ihre Geldpolitik möglichst stabilitätsorientiert umsetzen würde, hätte dies im gegenwärtigen Umfeld (mit Negativzinsen in der Eurozone) wohl eine Aufwertung des Frankens zur Folge – mit entsprechenden Konsequenzen für die Aussenwirtschaft.

Fazit

Eine Umstellung würde der Schweiz nur einen beschränkten Zusatznutzen bringen, und sie wäre durchaus auch mit volkswirtschaftlichen Kosten und Unsicherheiten verbunden. Für die Stimmbürger stellt sich letztlich die Frage, ob sie die Kreditversorgung künftig stärker der SNB überlassen und damit mehr Bürokratie in Kauf nehmen wollen, oder ob sie ein marktwirtschaftliches Modell vorziehen. Im Bereich der Geldpolitik müssen sie zwischen dem gegenwärtigen System und einer reinen Geldmengensteuerung abwägen, welche die Handlungsfreiheit der SNB einschränkt und den Einfluss der Politik stärkt. Da die ausstehende Geldmenge künftig nicht mehr mit Aktiva gedeckt wäre, stellt sich zudem die Frage, ob der Franken seine Werthaltigkeit auch langfristig bewahren würde – insbesondere, weil das neu geschaffene Geld künftig der Staatsfinanzierung dienen würde. Auch das Geld auf Zahlungsverkehrskonten wäre nur so lange sicher, wie das Vertrauen in die Währung erhalten bliebe. Die Vorlage wäre sicherlich einfacher umsetzbar gewesen, wenn sich die Initianten auf eine 100 Prozent-Deckung der Einlagen beschränkt und der SNB den bisherigen geldpolitischen Spielraum belassen hätten.

[i] Quelle: Sethe, Rolf: «Ein Indianer kennt keinen Schmerz – Reaktionen der Schweiz auf Finanzmarktkrise und Steuerstreit», Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (ZBB), Nr. 2/11.

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