Die Börsianer sind euphorisch, die Wirtschaftsauguren verbreiten Optimismus. 2021 soll das Jahr der Erholung werden. Christoph Sax, Chefökonom der Migros Bank, erklärt, wieso.
(Das Interview erschien am 21.12.202020 im Migros-Magazin / Text: Benita Vogel)
Christoph Sax, die Wirtschaft hat Anfang Jahr einen beispiellosen Schock erlitten. Heute stehen wir besser da als erwartet. Wie kommt das?
Der private Konsum war eine grosse Stütze. Die Sparquote ist wegen der Jobunsicherheit zwar gestiegen, die Leute haben aber weiterhin Geld ausgegeben für Computerzubehör, Möbel, Fahrräder oder Umbauten. Die Kurzarbeit und die Kreditbürgschaften des Bundes brachten Entlastung. Nach dem Lockdown gab es eine Aufholjagd. Auch die Struktur der Schweizer Wirtschaft hilft.
Inwiefern?
Die Pharmaindustrie macht einen bedeutenden Anteil in der Schweizer Wirtschaft aus. Sie war von der Pandemie kaum betroffen. Gleichzeitig hat der Tourismus, der besonders unter den Schutzmassnahmen litt, weniger Gewicht als in den Nachbarländern. Zudem läuft die Wirtschaft in China und anderen asiatischen Ländern bereits wieder gut. Das stützt die Weltkonjunktur, wovon die exportorientierte Schweiz profitiert.
Das Hin und Her bei den Schutzmassnahmen verursacht Unsicherheit. Welche Auswirkungen haben die Restriktionen des Bundesrats?
Wir gehen von einem schwierigen Winter aus, vor allem weil der Tourismus und die Gastronomie stark leiden werden. Der im Herbst eingeschlagene liberale Kurs des Bundesrats ist wirtschaftlich gesehen aber gut aufgegangen. Die Industrie befindet sich in einem Aufschwung und verzeichnet mehr Bestellungen. Für die Spitäler bedeutet dieser Kurs einen grossen Kraftakt. Im Frühling wird sich die Situation aber generell verbessern.
Worauf beruht der Optimismus?
Es dreht sich alles um den Corona-Impfstoff. Der Beginn der Impfkampagne und die milderen Temperaturen werden im Frühling zu einer Lockerung der Schutzmassnahmen führen. Bis im Herbst sollten die Restriktionen so weit gelockert werden können, dass man auch freier reisen kann. Wir rechnen mit einem Wachstum des Schweizer Bruttoinlandprodukts um drei Prozentpunkte im neuen Jahr.
Ist das nicht zu euphorisch? Über die Wirkungsdauer und Nebenwirkungen weiss man so gut wie nichts.
Rückschläge kann es immer geben. Die Wahrscheinlichkeit ist aber hoch, dass es gut kommt. Die Impfstoffstudien zeigten vielversprechende Resultate. Drei Anbieter – Moderna, AstraZeneca und Pfizer/Biontech – haben die Entwicklung ihrer Impfstoffe beendet. Sie werden im kommenden Jahr bis zu fünf Milliarden Dosen produzieren. Damit lassen sich zirka 2,5 Milliarden Menschen impfen. Sechs weitere Hersteller schliessen die Entwicklung ihrer Impfstoffe im kommenden Jahr ab, sodass wohl deutlich mehr Impfdosen zur Verfügung stehen werden. Das hilft, allfällige Rückschläge bei anderen Präparaten abzufangen.
Und wenn sich die Leute nicht impfen lassen wollen?
Ich verstehe die Vorbehalte, zumal die Impfstoffe sehr schnell entwickelt worden sind. Ich gehe aber davon aus, dass das Vertrauen im Jahresverlauf zunehmen wird. Wenn sich jeder Zweite impfen lässt, kann das schon reichen, um das Virus stark einzudämmen. Wichtig ist vor allem, dass Risikogruppen geschützt und die Spitäler entlastet werden.
Was geschieht, wenn die Impfstrategie versagt?
Dann werden weitere Wellen folgen. Die Wirtschaft fällt in eine Rezession zurück. Konkurse und Arbeitslosigkeit werden steigen. Wir schätzen die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios auf 40 Prozent.
Die Börsen rechnen offenbar auch mit einem vollen Impferfolg. Die Kurse sind schon wieder stark gestiegen. Gibt es eine Korrektur?
Das muss nicht sein. Die Unternehmensgewinne werden sich im nächsten Jahr stark erholen. Das rechtfertigt die Kursanstiege. Wir erleben zudem in mehreren Bereichen einen Technologieschub. Die Digitalisierung eröffnet grosse Chancen. Es gibt viele neue Geschäftsmodelle, etwa die vielen Tools zur internetbasierten Zusammenarbeit, die den Kundennutzen steigern. Auch die Medizin erlebt eine Innovationsoffensive. Solche Technologieschübe bringen Produktivitätssprünge, die Wachstum und Wohlstand schaffen.
Wenn die Kurse steigen und die Wirtschaft gut läuft, ziehen normalerweise die Zinsen an. 2021 auch?
Einen Zinsanstieg werden wir nicht so schnell sehen. Die Notenbanken pumpen weiterhin viel Geld in das Finanzsystem, um eine Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhindern. In Europa wird die expansive Geldpolitik weit über 2021 hinaus anhalten. Es wird zudem ein bis zwei Jahre dauern, bis die Wirtschaft nach dieser Pandemie wieder in allen Sektoren ausgelastet ist. Deshalb ist vorläufig eine Zinserhöhung nach sich zieht. Folglich werden auch die Hypozinsen in den nächsten Jahren auf sehr niedrigem Niveau stabil bleiben.
Neben den Notenbanken geben auch die Staaten viel Geld aus, um gegen die Folgen der Pandemie zu kämpfen. Übernehmen sie sich nicht?
Die globalen Schulden nehmen sehr stark zu. Aufgrund der niedrigen Zinsen bleiben die Schulden aber gut tragbar. Steigen die langfristigen Zinsen in ein oder zwei Jahren, wird der höhere Schuldendienst den finanziellen Spielraum der Staaten und das Wachstumspotenzial einschränken. Wenn die Europäische Zentralbank dereinst nicht mehr im grossen Stil Staatsanleihen hochverschuldeter und finanziell schwächerer Staaten wie Italien, Griechenland oder Portugal kaufen sollte, wird die Nervosität in den Finanzministerien und unter den Anlegern wieder zunehmen.
Wie verhält es sich mit den hiesigen Staatsschulden?
In der Schweiz werden die Staatshilfen die Verschuldung weniger stark belasten, sofern der Bund mit seinen Bürgschaften nicht für allzu viele Kreditausfälle geradestehen muss. Die Massnahmen des Bundes haben Insolvenzen und einen grösseren Abbau von Arbeitsplätzen bisher verhindert. Wenn 2021 weitere Pandemiewellen folgen, würden sie jedoch kaum mehr reichen. In der Schweiz ist der Anstieg der Staatsschulden für künftige Generationen aber so oder so tragbar. Die Schweiz hat dank der Schuldenbremse gut für solche ausserordentlichen Jahre vorgesorgt.
Wo wird man die Folgen der Krise am stärksten spüren?
Die Finanzierung der Vorsorge wird in den Industriestaaten noch stärker in den Fokus rücken. Höhere Schulden, kleinerer finanzieller Spielraum in Kombination mit einer alternden Bevölkerung ist eine schwierige Konstellation.
Wie sieht es mit dem Wohlstand aus?
Die Krise hat viel Wohlstand vernichtet. Es ist zu befürchten, dass sich in vielen Ländern die Schere öffnet und die soziale Ungleichheit weiter zunimmt. Diese Gefahr steigt, wenn es weitere Wellen gibt und die Arbeitslosigkeit zunimmt.
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