Das neue Sorgenkind der Eurozone

Die Aufmerksamkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) verlagert sich zunehmend von den Zinserhöhungen auf deren Folgen für die Staatsverschuldung ihrer Mitgliedstaaten. Anhand des während der Pandemie eingeführten Anleihekaufprogramms PEPP kann die EZB die Zinsen der Staatsanleihen der hochverschuldeten Länder wie insbesondere Italien dämpfen.

Ende Oktober beschloss die Europäische Zentralbank (EZB) nach zehn Leitzinserhöhungen in Folge, ihren Leitzinsstraffungszyklus zu pausieren. Wir sind der Meinung, dass es sich nicht um eine Pause handelt, sondern dass der Zinsgipfel in der Eurozone bereits erreicht ist. Die Konjunktur in der Eurozone hat sich in den letzten Monaten abgeschwächt, und die hohen Inflationsraten sind gemäss jüngsten Daten deutlich schwächer ausgefallen. Die EZB ist deshalb der Auffassung, dass eine weitere Zinsanhebung nicht zielführend wäre und sich negativ auf die ohnehin schon schwache Wirtschaft auswirken würde.

Gleichzeitig sind wir aber auch der Ansicht, dass die EZB in nächster Zukunft nicht die Leitzinsen senken wird. Das aktuelle Zinsniveau – das zweihöchste seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 – wird so lange beibehalten, bis die Inflation dauerhaft unter das Inflationsziel der EZB von 2 Prozent zurückfällt. Mindestens so kommuniziert die Zentralbank mit der sogenannten forward guidance die künftige geldpolitische Absicht und möchte somit die Erwartungen der Akteure an den Finanzmärkten beeinflussen. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wird dabei nicht nur durch die Leitzinsen umgesetzt, sondern auch durch weitere Instrumente wie beispielsweise den Kauf von Wertschriften. Dieses Instrument dient zur Steuerung der Kapitalmarktzinsen.

Zahlreiche Ankaufsprogramme im letzten Jahrzehnt

Über die Jahre 2014 bis 2015 führte die EZB im Rahmen ihrer expansiven Geldpolitik das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten ein (Asset Purchase Programme, APP), das den Kauf von Anleihen privater und öffentlicher Schuldner sowie weiteren Wertschriften vorsah. Das Ziel des Programms war einerseits eine Unterstützung der Kreditversorgung der Wirtschaft und gleichzeitig eine geldpolitische Lockerung für die Finanzmärkte. Die Wertpapierkäufe und die langjährigen tiefen Leitzinsen führten während mehreren Jahren zu einer tiefen Schuldenbelastung hochverschuldeter Mitgliedsländer wie beispielsweise Italien. Die Wertpapierkäufe setzte die EZB mit einigen Unterbrechungen bis Juni 2022 fort. Dann reduzierte die EZB ihre Anleihenkäufe, indem sie sich darauf beschränkte, fällige Rückzahlungen zu reinvestieren. Diesen Sommer wurden schliesslich alle Ankäufe von Vermögenswerten eingestellt. Ende Oktober 2023 betrug der Wert des APP-Portfolios noch immer 3249 Milliarden Euro. Die gehaltenen Anleihen werden nun graduell in den nächsten Jahren auslaufen.

Das inflationäre Umfeld zwang die Zentralbank, die Staatsverschuldung und die Budgetdisziplin ihrer Mitgliedstaaten wieder mehr in den Vordergrund zu rücken, da die stark angestiegenen Zinsen die hochverschuldeten Länder der EU zunehmend unter Druck setzten. Die Zentralbank verfügt jedoch noch über ein weiteres Instrument, das hochverschuldeten Länder bei der Reduktion der Zinslast hilft. Es geht um das im März 2020 eingeführte Pandemie-Notfallkaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme, PEPP). Bis zur Einstellung der Nettoankäufe Ende März 2022 erwarb die EZB Anleihen öffentlicher und privater Schuldner im Wert von 1850 Milliarden Euro. Die Reinvestition der fälligen Rückzahlungen soll bis mindestens Ende 2024 fortgesetzt werden. Damit könnte die EZB bis Ende des nächsten Jahres durch den Ankauf von Staatsanleihen der hochverschuldeten Länder deren Renditen unter Kontrolle halten, wenn ihre Refinanzierungskosten allzu stark steigen würden.

Das Sorgenkind

Durch ihre Ankäufe im grossen Stil verzerrt die EZB den Anleihenmarkt: Hochverschuldete Länder wie Italien haben keinen Anreiz, ihre Verschuldung zu reduzieren, sondern werden sich mit den verzerrten tieferen Zinskosten eher noch mehr verschulden. Die Bruttostaatverschuldung lag am Ende der ersten Jahreshälfte 2023 bei 142 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), und das laufende Staatsdefizit dürfte im Jahr 2023 5,3 Prozent des BIP betragen. Beide Werte liegen deutlich über dem Durchschnitt der Währungsunion und den Vorgaben der Maastricht- Konvergenzkriterien.

Während ihres ersten Amtsjahres kollidierte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mehrfach mit den EU-Institutionen bezüglich verschiedener politischer Anliegen. Nun sorgten ihre zukünftigen Finanzpläne für weitere Unruhe an den Finanzmärkten. Aufgrund des schwachen Wirtschaftswachstums werden die Fiskaleinnahmen nicht ausreichend sein, um die laufenden Ausgaben vollständig zu finanzieren. Ausgabekürzungen wären unpopulär und würden dazu führen, dass ein Teil der Wahlversprechen nicht eingehalten werden könnte. Die von der Regierung Meloni gewählte Lösung ist die Erhöhung des bereits vorgesehenen Staatsdefizits für das nächste Jahr von 3,5 auf 4,3 Prozent des BIPs. Es werden also neue Schuldtitel ausgegeben und dies wird in einem Hochzinsumfeld passieren.

Die Ankündigung wurde mit einer Zunahme der Renditedifferenz (Spread) zwischen den als sicher geltend deutschen 10-jährigen Staatsanleihen und denjenigen aus Italien quittiert. Die Bedenken sind berechtigt: Italien ist bereits ein hochverschuldetes Land, und die Aufnahme neuer hochverzinster Schulden wird die Zinslast weiter vergrössern. Im aktuellen Jahr gibt Italien rund 9 Prozent seiner Fiskaleinnahmen für die Bezahlung der Zinsen auf den Staatschulden aus. Es handelt sich um einen sehr hohen Wert im Vergleich zu anderen Ländern der Eurozone. Das verringert den Handlungsspielraum der italienischen Regierung, da ihr ein Zehntel der Einnahmen grundsätzlich nicht zur Verfügung steht. Die Perspektiven für die Zukunft sind nicht rosig: Der allmähliche Abschluss des PEPP-Programms wird zu steigenden Renditen der italienischen Staatsanleihen führen, wodurch die Refinanzierung der Staatsverschuldung noch teuer wird und die Zinslast weiter zunehmen wird. Die Zahlungsfähigkeit Italiens könnte im schlimmsten Fall auf dem Spiel stehen und zu tiefgreifenden Reformen mit unpopulären Massnahmen führen. Die EZB und die Europäische Union möchten auf jeden Fall eine Wiederholung des griechischen Falls verhindern. Dies setzt jedoch Zugeständnisse seitens Italiens voraus.

Aufschlussreicher Vergleich mit Griechenland

Abschliessend eine interessante Beobachtung in Bezug auf den Spread zwischen den italienischen und griechischen Staatsanleihen. Griechenland weist mit 167 Prozent seines BIP eine noch höhere Schuldenquote aus als Italien. Es nimmt jedoch im Gegenzug zu Italien tiefgreifende Reformen vor. Jahrelang war der griechische Risikoaufschlag höher als derjenige von Italien – bis Anfang 2023. Danach hat sich die Lage umgekehrt, und trotz höherer Staatsverschuldung beträgt das Renditedifferential heutzutage rund 50 Basispunkte: Eine symbolische Übergabe des Titels «Sorgenkind» der Eurozone.

Disclaimer
Die in dieser Publikation der Migros Bank AG enthaltenen Informationen dienen zu Werbe- und Informationszwecken gemäss Art. 68 des Finanzdienstleistungsgesetzes. Sie sind nicht das Ergebnis einer (unabhängigen) Finanzanalyse. Die darin enthaltenen Informationen begründen weder eine Aufforderung, ein Angebot noch eine Empfehlung zum Kauf und Verkauf von Anlageinstrumenten oder zur Durchführung bestimmter Transaktionen oder zum Abschluss eines anderen Rechtsgeschäftes, sondern haben ausschliesslich beschreibenden, informativen Charakter. Die Informationen stellen weder ein Kotierungsinserat, ein Basisinformationsblatt noch einen Prospekt dar. Insbesondere stellen sie keine persönliche Empfehlung oder Anlageberatung dar. Sie berücksichtigen weder Anlageziele, das bestehende Portfolio noch die Risikobereitschaft oder Risikofähigkeit oder finanzielle Situation oder andere besondere Bedürfnisse des Empfängers. Der Empfänger ist ausdrücklich aufgerufen, seine allfälligen Anlageentscheide auf Grund eigener Abklärungen inklusive Studium der rechtsverbindlichen Basisinformationsblätter und Prospekte oder auf der Informationsbasis einer Anlageberatung zu treffen. Die rechtsverbindlichen Produktdokumentationen sind, sofern diese vorgeschrieben und vom Emittenten bereitgestellt wurden, über migrosbank.ch/bib erhältlich. Die Migros Bank übernimmt keine Garantie für die Richtigkeit bzw. die Vollständigkeit der vorliegenden Informationen und lehnt jegliche Haftung für allfällige Verluste oder Schäden irgendwelcher Art ab, welche durch den Gebrauch dieser Information entstehen könnten. Die vorliegenden Informationen stellen lediglich eine Momentaufnahme im aufgedruckten Zeitpunkt dar; es erfolgen keine automatischen, regelmässigen Anpassungen.

Ähnliche Beiträge