Warum die Arbeitslosigkeit in der Schweiz nicht sinkt

Die Arbeitslosenquote in der Schweiz notiert auf dem tiefsten Stand seit zehn Jahren. Das allein bedeutet jedoch noch nicht, dass die Arbeitslosigkeit gesunken ist. Die vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) veröffentlichten Daten erfassen nicht alle Arbeitslosen.

Der Schweizer Arbeitsmarkt befindet sich in blendender Verfassung. Zu diesem Schluss kommt man zumindest, wenn man die Arbeitslosenquote betrachtet. Diese bildet sich seit zwei Jahren zurück. Die Arbeitslosenquote wird monatlich vom Seco erhoben. Im Juli verharrte sie bei 2,4 Prozent und damit auf einem Zehnjahrestief.

Die Arbeitslosenquote in der Schweiz sinkt
Quelle: Thomson Reuters Datastream

Die offizielle Arbeitslosenquote des Seco stellt das Bild jedoch zu positiv dar. Sie erfasst nur die Arbeitslosen, die Ende Monat bei einem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Stellensuche gemeldet sind – unabhängig davon, ob sie Arbeitslosenentschädigung beziehen oder nicht. Alle Arbeitslosen, die nicht bei einem RAV gemeldet sind, werden nicht erfasst.

Dieser Effekt verzerrt die Arbeitslosenquote stark nach unten. Infolge der Erfassung sogenannt «nichtarbeitsloser Stellensuchender» wird er allerdings etwas relativiert, indem auch registrierte Stellensuchende in die Statistik einfliessen, die streng genommen nicht arbeitslos sind. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn eine Person einem Zwischenverdienst nachgeht, ein Programm zur vorübergehenden Beschäftigung besucht oder eine längere Weiterbildung macht (siehe auch: Wie entstehen die Arbeitslosenzahlen des Seco?). Ende Juli waren schweizweit 106 052 Personen als arbeitslose Stellensuchende und 73 805 Personen als nichtarbeitslose Stellensuchende bei einem RAV gemeldet.

Zahlreiche Arbeitslose sind nicht beim RAV zur Stellensuche gemeldet.

Dass umgekehrt arbeitslose Personen nicht beim RAV gemeldet sind und somit nicht in der Arbeitslosenquote erfasst werden, kann unterschiedliche Gründe haben. Die Anmeldung bei einem RAV geht mit Pflichten und administrativem Aufwand einher, weshalb sich Arbeitslose mit guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt oftmals selbständig auf Stellensuche begeben. Ein wichtiger Beweggrund für eine Registrierung beim RAV ist der Bezug von Arbeitslosenentschädigung. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld entsteht erst, wenn die betroffene Person innert der letzten zwei Jahre vor der Erstanmeldung mindestens zwölf Monate im Rahmen einer Anstellung in die Arbeitslosenversicherung (ALV) eingezahlt hat. Daher dürften vor allem jüngere Arbeitslose ohne Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung auf eine RAV-Anmeldung verzichten. Ein weiterer wichtiger Grund für die Diskrepanz zwischen der effektiven Arbeitslosigkeit und der Arbeitslosenquote ist der Status der Langzeitarbeitslosen, also jener Personen, die seit über einem Jahr ohne Stelle sind. Werden Langzeitarbeitslose aus der ALV ausgesteuert, fallen sie aus der Arbeitslosenquote, sofern sie nicht bei einem RAV registriert bleiben.

Doch wie sehr wird die tatsächliche Arbeitslosigkeit dadurch unterschätzt? Die Spanne zwischen der effektiven und der registrierten Arbeitslosigkeit lässt sich zwar nicht exakt messen, da keine Pflicht zur Statusmeldung der individuellen Erwerbssituation besteht. Annähernd lässt sich die Differenz aber anhand der vom Bundesamt für Statistik (BfS) erhobenen Erwerbslosenquote gemäss Definition der International Labour Organization (ILO) abschätzen. Die ILO definiert als arbeitslos, wer im erwerbsfähigen Alter ist, zum Zeitpunkt der Erhebung arbeitslos ist, für eine Anstellung verfügbar ist und aktiv auf Stellensuche ist (siehe auch die Definitionen des BfS). In den letzten fünf Jahren betrug die Differenz zwischen der Erwerbslosen- und der Arbeitslosenquote jeweils ein bis zwei Prozentpunkte. Daraus lässt sich schliessen, dass zwischen 75 000 bis 150 000 Arbeitslose nicht bei einem RAV gemeldet sind.

Arbeitslosenquote und Erwerbslosenquote im Vergleich
Quelle: Thomson Reuters Datastream

Die Aussagekraft dieser Schätzwerte ist allerdings eingeschränkt, denn die Arbeitslosenquote des Seco und die ILO-Erwerbslosenquote des BfS weisen erhebliche Unterschiede auf. Der Arbeitslosenquote liegt eine Vollerhebung aller bei einem RAV registrierten Arbeitssuchenden zugrunde, die Erwerbslosenquote dagegen wird aus einer Hochrechnung von 30 000 Haushaltsbefragungen ermittelt. Das Seco klassifiziert Personen als nicht erwerbstätig, sofern sie weniger als sechs Stunden pro Woche arbeiten, die Schwelle bei der Definition der ILO-Erwerbslosenquote liegt bei einer Stunde pro Woche. Ausserdem wird die Arbeitslosenquote auf monatlicher Basis erhoben, die Erwerbslosenquote hingegen quartalsweise.

Wie sich Arbeitslosen- und Erwerbslosenquote unterscheiden
Arbeitslosenquote (Seco)Erwerbslosenquote (BfS)
Definition ArbeitslosigkeitNicht erwerbstätig (<6h/Woche), zur Stellensuche bei einem RAV registriert, sofort verfügbarNicht erwerbstätig (<1h/Woche), aktiv auf Stellensuche, sofort verfügbar
Erhebungsgrundlage und BerechnungAnzahl registrierter Arbeitslosen (Vollerhebung) dividiert durch
Anzahl Erwerbspersonen (Erwerbstätige ab 1 Stunde Arbeitszeit pro Woche + Anzahl Erwerbslose)
Stichprobenerhebung (30 000 Haushalte) mittels Telefoninterviews, Hochrechnung
Erhebungsfrequenzmonatlichvierteljährlich
Quelle: Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco)

Ein Vorteil der Erwerbslosenquote ist die bessere internationale Vergleichbarkeit der Daten. Die meisten Länder publizieren eine Erwerbslosenquote gemäss den Richtlinien der ILO. Im internationalen Vergleich weist die Schweiz (4,5 Prozent) eine relativ tiefe Arbeitslosigkeit aus (gemessen an der saisonal bereinigten Erwerbslosenquote). In den USA (3,9 Prozent) und Deutschland (3,5 Prozent) ist sie allerdings deutlich niedriger. Die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften und der damit verbundene Anstieg des Lohnniveaus erklären wohl auch ein Stück weit, warum sich die Zuwanderung aus Deutschland in der Schweiz abgeschwächt hat.

ILO Erwerbslosenquoten (saisonal bereinigt, Quartalsdaten)
Quelle: Thomson Reuters Datastream

Die Arbeitslosenquote des Seco trägt dem Strukturwandel weniger Rechnung als die Erwerbslosenquote. Letztere hat in den letzten Jahren kaum abgenommen, weil sie die strukturelle Arbeitslosigkeit besser erfasst. Diese entsteht, wenn sich die Wirtschaft und die Anforderungen an die Arbeitnehmer verändern und ein zunehmender Teil der Arbeitssuchenden die neuen Anforderungsprofile nicht erfüllen kann. Dadurch kann es in verschiedenen Branchen zu einem Arbeitskräftemangel kommen, während die Arbeitslosigkeit gleichzeitig stabil bleibt oder gar zunimmt.

In der neusten Betriebserhebung (BESTA) des BfS meldeten die Arbeitgeber zunehmende Probleme bei der Rekrutierung geeigneter Fachkräfte. Gleichzeitig wird es allerdings für Arbeitnehmer auch zunehmend schwieriger, ihr Arbeitspotential auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren. Gemäss BfS waren Ende 2017 von allen Teilzeitbeschäftigten 24,5 Prozent der Männer und 20,4 Prozent der Frauen unterbeschäftigt, Tendenz zunehmend.

Eine wichtige Herausforderung ist die Reintegration von älteren Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt, denn je länger die Arbeitslosigkeit dauert und je älter der Arbeitnehmer ist, desto grösser ist das Risiko, keine Stelle mehr zu finden. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen über 50 Jahren hat über die letzten 5 Jahren um etwa 20 Prozent zugenommen; Personen über 50 sind zudem überproportional von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Arbeitslosigkeit im hohem Alter erhöht das Armutsrisiko und hat unmittelbare negative Auswirkungen auf die Vorsorgesituation der Betroffenen.

Will man das vorhandene Arbeitspotential optimal einsetzen, so führt nichts daran vorbei, die Arbeitnehmer über alle Generationen hinweg besser auf den immer schneller fortschreitenden Technologiewandel vorzubereiten. Dies erfordert einerseits gezielte Massnahmen zur Verbesserung der Qualifikationen, denn oftmals sind es Stellen mit höherem Anforderungsprofil und sogenannte MINT- Stellen (MINT: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), die unbesetzt bleiben. Gleichzeitig gilt es einen Weg zu finden, um die Position älterer Arbeitnehmer im Betrieb zu stärken und deren Weiterbeschäftigung zu fördern – auch im Hinblick auf die Finanzierung der Altersvorsorge.

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