Mit den vorgezogenen Neuwahlen ist in Deutschland die Hoffnung auf einen belebenden Impuls verbunden. Die gesellschaftlichen, klimapolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen sind jedoch immens, und auch von der neuen Regierung sind keine Wunder zu erwarten. Aber vielleicht bewegt sich das zukünftige Kabinett zumindest wieder auf der Erfolgsschiene.
Deutschland hat gewählt. Nach dem Scheitern der Ampel-Regierung unter Olaf Scholz war das deutsche Wahlvolk am Sonntag aufgerufen, an der Urne den Bundestag durch vorgezogene Neuwahlen den Bundestag neu zu bestellen.
Den vorläufigen Ergebnisse zufolge wird die Union aus CDU und CSU auf 28,8 Prozent der Stimmen kommen. Die AfD avanciert mit knapp 21 Prozent Wählerstimmen zur zweitstärksten Kraft und verweist die SPD und die Grünen auf die Plätze drei und vier (mit 16,4 bzw. 11,6 Prozent). Die Linke erreicht 8,8 Prozent, während das BSW und die FDP an der 5-Prozent-Hürde scheitern.
Damit zeichnet sich ab, dass Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Kanzler ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt wird. Womit aber die Schwierigkeiten erst so richtig beginnen. Denn eine Koalition mit der zweitplatzierten AfD schliesst Merz bislang kategorisch aus. Viel lieber wäre ihm eine Partnerschaft mit der parteipolitisch am nächsten stehenden FDP. Diese verpasste aber aufgrund des in Deutschland geltenden Quorums von mindestens fünf Prozent Stimmenanteil ihren Verbleib im Bundestag.
Deutschland, Jamaika, Kenia…
Mit diesem Scheitern ist somit einer Regierungsbeteiligung der Liberalen vom Tisch. Es wird weder eine «Deutschland-Koalition» (schwarz-rot-gelb) noch eine «Jamaika-Koalition» (schwarz-grün-gelb) geben.
Damit wird’s noch komplizierter. Weigert sich Friedrich Merz weiterhin zur Zusammenarbeit mit der AfD bleibt der rein rechnerisch mögliche Ausweg über die Neuauflage einer «GroKo» (schwarz-rot). Eine solche Koalitionsregierung aus Union und SPD stünde aber aufgrund der Mehrheitsverhältnisse auf ziemlich wackligen Beinen. Dass Merz zusätzlich zu den Sozialdemokraten auch die Grünen für eine «Kenia-Koalition» (schwarz-rot-grün) mit ins Boot holen wird, scheint angesichts der weit auseinander liegenden, oftmals entgegengesetzten Positionen wenig wahrscheinlich.
Es kann noch dauern
Die politische Lage in Europas grösster Volkswirtschaft bleibt also auch nach den Neuwahlen wohl noch für einige Zeit verworren. Klar scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur zweierlei: Erstens dürfte wohl noch einige Zeit ins Land streichen, bis Deutschland eine neue Regierung hat. 2021 dauerte es rund zwei Monate, bis die im November zerbrochene Ampelkoalition gebildet war. Eine Legislatur zuvor nahm die Regierungsbildung sogar rund ein halbes Jahr in Anspruch.
Zweitens ist aufgrund der teilweise beträchtlichen programmatischen Differenzen der möglichen Koalitionären Skepsis angebracht, ob es dem dereinstigen Kabinett gelingt, tiefgreifende Reformen aufzugleisen (und durchs Parlament zu bringen), welche dringend notwendig sind, um das angeschlagene Land wieder zurück auf die Erfolgsspur zu bringen. Wahrscheinlich ist viel mehr, dass weiterhin der wenig überzeugende Kompromiss die politische Tagesordnung der Bundesrepublik prägen wird.
Hartnäckige Probleme: Von Migration und Sicherheit
Das ist insofern unbefriedigend, weil die Herausforderung für Deutschland, aber auch für Europa immens sind. Die Migrationsdebatte und die Flüchtlingspolitik drohen die Gesellschaft, aber auch die europäischen Staaten immer mehr zu spalten. Jedes neue Attentat mit Migrationshintergrund reisst die Gräben tiefer auf und verlangt immer dringlicher nach griffigen Antworten der etablierten Parteien, möchte man dem Vormarsch rechtspopulistischer Kräfte wirkungsvoll begegnen.
Nach konkreten Lösungen verlangt auch die Sicherheitspolitik, bei der sich die Europäer der schon lange vor Donald Trump eingesetzten Götterdämmerung nicht mehr verschliessen können. Europa und namentlich auch Deutschland müssen sich mit der jahrelang angekündigten und nun wohl definitiven Neuausrichtung der US-Sicherheitspolitik endlich militärisch emanzipieren und die teilweise im desolaten Zustand befindlichen Streitkräfte personell und ausrüstungsmässig erheblich ausbauen. Das kostet Abermilliarden von Euro. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten mit klammen Haushaltskassen würde Deutschland zwar theoretisch über den hierfür nötigen finanziellen Spielraum verfügen, wird aber durch die in im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse faktisch arg limitiert. Womit man wieder bei den Kompromissen einer wie auch immer ausgestalteten Koalition wäre: Während die FDP am Haushaltskontroll-Instrument hängt, ist es in der Union zumindest umstritten und bei Links-Grün wiederum sowieso schon lange ein Fall für Müllhaufen der Geschichte.
…über Klima- und Umweltschutz…
Neben der Migrations- und Verteidigungspolitik steht Deutschland auch in Umwelt- und Klimaschutzfragen vor massiven Herausforderungen, die eine möglichst handlungsfähige Regierung voraussetzen würde. Denn der musterschülerhafte Übereifer, welchen die deutsche Politik bislang an den Tag gelegt hat (das Land möchte fünf Jahre vor der restlichen EU klimaneutral werden), wird immer offensichtlicher zum Bumerang, der die Wirtschaft buchstäblich niederstreckt: Zur Regulierungsflut aus Brüssel gesellt sich ein kritisch zu werden drohendes Energieversorgungsdesaster aufgrund des überhasteten und ideologisch motivierten Atomstromausstiegs. Das Elektrizitätsnetzwerk ächzt unter der Last der dezentralen und zeitlich schwankenden Stromeinspeisung und befindet sich gefährlich nah an partiellen Zusammenbrüchen. Der Ausweg in Form von Reserve-Gaskraftwerken ist dabei nicht nur klimapolitisch zweifelhaft, sondern auch aus Investorensicht fragwürdig – wer möchte schon Unsummen in Anlagen investieren, die nur sporadisch zum Einsatz kommen und ein entsprechend geringes Amortisierungspotenzial bieten?
Nicht ausschliesslich, aber vor allem am Beispiel der (bezahlbaren) Energieversorgungssicherheit zeigt sich, dass die deutsche Umweltpolitik neu gedacht werden muss, um die Wirtschaft nicht abzuwürgen. Eine an einem Strick ziehende Bundesregierung wäre somit auch in diesem Politikfeld unabdingbar. Doch die möglichen Koalitionen lassen auch in dieser Hinsicht wenig Gutes vermuten. Die einen stören sich an ordnungspolitischen Aspekten, andere fühlen sich grundsätzlichen Ideologien verpflichtet, und wieder anderen gilt die grösste Sorge den Staatsfinanzen. Ob vor diesem Hintergrund tatsächlich ein umweltpolitischer Neustart gelingt?
…bis hin zu Bürokratie und Infrastruktur
Zwar keinen eigentlichen Neustart aber dringend mehr Treibstoff und Luft benötigt auch die deutsche Wirtschaft als Ganzes, insbesondere die darbende Industrie. Viele der Probleme für die betroffenen Unternehmen haben mit den Verfehlungen in der Umweltpolitik zu tun. Und nochmals viele der Schwierigkeiten liegen in der internationalen Konjunkturlage, den Verschiebungen an den globalen Märkten und nicht zuletzt in der aggressiven Handelspolitik der neuen US-Regierung. Einen wesentlichen Anteil am heftigen Gegenwind für die deutsche Wirtschaft fusst aber auch in überbordender Bürokratie, ineffizienten Abläufen, vernachlässigter Infrastruktur und schliesslich auch in einer Bundespolitik, welche die Unternehmen zu lange nicht als essenzielle Elemente des Gesamtsystems betrachtete, sondern schon fast als störende Komponente, die es mit möglichst viel Regulierung und Vorschriften in Schach zu halten gilt.
Dass sich Wirtschaft und Politik in den letzten Jahren immer fremder geworden sind, erstaunt daher nicht. Ebenso wenig verwundert, dass Deutschland von diesem Hintergrund immer mehr an Standort- und Investitionsattraktivität eingebüsst hat. Vielleicht besteht in dieser Hinsicht sogar die grösste Übereinstimmung innerhalb der nächsten Regierungskoalition. Doch auch wenn es gelingt, einen insgesamt wirtschaftsfreundlicheren Kurs einzuschlagen – ein Boost für die den deutschen Wirtschaftsmotor wird sich nicht so schnell einstellen. Denn erstens mahlen die gesetzlichen und politischen Mühlen gerade auch in Deutschland langsam, und zweitens dauert es bekanntlich immer ungleich länger, Vertrauen (wieder) aufzubauen, als es zu zerstören.
Keine sofortige Aufholjagd
Deutschland hat gewählt. Ob damit tatsächlich die Weichen gestellt wurden, um die einstige Wachstumslokomotive Europas wieder auf die richtige Schiene zu bringen, wird sich weisen müssen. Klar ist, dass auch im besten Fall keine sofortige Fahrtaufnahme erfolgt. Unser nördlicher Nachbar mag bald eine neue Regierung haben. Die Probleme bleiben aber noch für längere Zeit die alten.
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