Die Idee eines möglichst hindernisfreien Welthandels gerät immer stärker unter Druck. Diese Entwicklung gefährdet die Kaufkraft westlicher Konsumentinnen und Konsumenten und erweist der globalen Armutsbekämpfung einen Bärendienst.
Erinnern Sie sich noch an George W. Bush und seine martialische Rhetorik von Schurkenstaaten? Der Begriff ist zwar weitgehend aus der amerikanischen Politik verschwunden, doch zumindest aus US-Optik dürfte längst auch China unter diese wenig schmeichelhafte Kategorie fallen. Mehr als deutlich wurde dies zuletzt mit der verabschiedeten «Anti-Tiktok»-Vorlage, zu dem im Kongress ein selten gewordener Grad an Einigkeit herrschte. Zwar ist das Gesetz hinsichtlich der praktischen Durchsetzung mit etlichen Fragezeichen behaftet und stösst gerade bei der jungen Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Doch die ausgesendete Botschaft ist eindeutig: China ist nicht nur ein wirtschaftlicher Rivale, sondern zum potenziellen – oder bereits tatsächlichen – Feind mutiert, dessen Fähigkeit zur strategischen Informationsgewinnung möglichst umfassend und möglichst frühzeitig zu unterbinden ist.
Zölle sind en vogue
Erinnern Sie sich noch an Donald Trump und seinen losgetretenen Handelskrieg? Sorgten 2018 etwa die Strafzölle auf Waschmaschinen noch für Aufsehen und Empörung, muten solche errichteten Importhürden mittlerweile wie sprichwörtliche «Peanuts» an, die schon lange durch gewaltigere Protektionismus-Massnahmen in den Schatten gestellt worden sind. Erst letzte Woche kündige Joe Biden am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania an, die Zollsätze auf Stahl und Aluminium aus China zu verdreifachen.
Erinnern Sie sich noch an die 1995 gegründete Welthandelsorganisation WTO und ihr Ziel, einen möglichst barrierefreien internationalen Handel anzustreben und markttechnische Schutzzäune sukzessive einzureissen? Diesen hehren Absichten zum Trotz läuft die Organisation immer mehr Gefahr, zu einem Papiertiger-Club zu verkommen, in dem sich die 164 Mitglieder zwar in schöner Regelmässigkeit zu umfassendem Freihandel bekennen, nur um sich anschliessend in noch schönerer Regelmässigkeit um die eigenen Grundsätze zu foutieren. Hochkonjunktur hat nicht etwa ein hindernisfreier weltweiter Warenaustausch, sondern Protektionismus, Blockbildung und (wirtschafts-)politische Spannung.
Abschottungen sind wieder salonfähig
Erinnern Sie sich noch an das Konzept der Globalisierung und seine Verheissung auf eine Steigerung – wenn nicht gar Maximierung – der globalen Wohlfahrt und des Wohlstandes? Obschon die Globalisierung diese impliziten Versprechen zu einem beachtlichen Grad eingelöst hat (siehe Grafik), schlägt dem Welthandel seit geraumer Zeit ein rauer Gegenwind entgegen. Diese Entwicklung steht dabei im bemerkenswerten Gegensatz zur Politik, wo namentlich beim Klimaschutz das Wohl in einem Ausbau der internationalen Kooperation gesucht wird. Beim Handel hingegen scheint die allmähliche Einigelung vermehrt zur vorherrschenden Maxime zu werden.
Es ist vor diesem Hintergrund nicht verkehrt, von einer nicht erst seit der Präsidentschaft Trumps angebrochenen Ära der Deglobalisierung zu sprechen. Die entsprechenden Schritte kommen dabei in ganz unterschiedlichen Gewändern daher: Unter dem Schlagwort «De-Risking» erlassen Regierungen Investitionsbeschränkungen, mit «Decoupling» werden internationale Arbeitsteilung und Lieferketten abgebaut, und mit «Standortattraktivität» lässt sich Protektionismus in Reinform wunderbar euphemistisch kaschieren.
Was ist mit den Konsumentinnen und Konsumenten?
Diese Deglobalisierungstendenzen wirken vor dem Hintergrund zugenommener geopolitischen Spannungen zumindest zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Ob diese Entwicklung aber längerfristig gesund ist? Es sind erhebliche Zweifel angebracht. Denn was aus geostrategischer Sicht offenbar opportun erscheint, ist oftmals nicht im eigentlichen Sinne der Konsumentinnen und Konsumenten. Der Umgang mit China liefert hierfür ideales Anschauungsmaterial. Ist das wachsende Unbehagen gegen die politische Führung der Volksrepublik gerechtfertigt? Zweifelsohne. Würde Peking seine Interessen notfalls auch militärisch durchsetzen und sammelt dafür schon nachrichtendienstlich wertvolle Informationen? Davon ist zumindest auszugehen – man denke an die enorme Aufrüstung der Streitkräfte oder an vermeintlich Wetterballone, bei denen es sich in Tat und Wahrheit um mit Spionagetechnik vollgestopfte Aufklärungsfluggeräte handelt.
Ist aber ein aus diesen Gründen angestrebter Handelsbeziehungsabbau auch im Sinne des Konsumentinnen und Konsumenten? Wohl kaum. Denn erst die riesige Produktionskapazität Chinas (gepaart mit teilweise astronomischer staatlicher Unterstützung) führten im Westen zu einem deutlichen Preisrückgang bei vielen Warengruppen. Insbesondere auch bei den für die Energiewende essenziellen Solarmodulen oder E-Fahrzeugen.
Die Armutsverringerung führt über den Handel
Das Beispiel zeigt: Eine weiter fortschreitende Deglobalisierung birgt die Gefahr mittelfristig steigender Preise. Das ist für die westlichen Industriegesellschaften zwar unangenehm, darf aber nicht über eine der Haupterrungenschaften der Globalisierung hinwegtäuschen, die mit abnehmendem internationalem Handel ernsthaft in Gefahr gerät: Der Anteil der Menschen, die unterhalb der Grenze zur extremen Armut leben, hat gemäss der Weltbank signifikant abgenommen[1]. Fielen 1991 noch über 35 Prozent darunter, waren es 2021 noch knapp zehn Prozent. Daran trägt die Globalisierung nicht den alleinigen, aber einen entscheidenden Anteil. Denn es sind niedergerissene Handelsbarrieren, die Produkte von Schwellen- und Entwicklungsländern überhaupt erst auf dem Weltmarkt verfügbar machen. Es sind geöffnete Märkte, die auch in den ärmsten Ländern gewisse Güter nach und nach erschwinglicher lassen werden.
Dies kommt nicht ohne negative Nebeneffekte, die auch Verlierer hervorbringt. Vielleicht sollte die Politik diese Menschen aber vielmehr besser für den Weltmarkt vorbereiten, als sie davor zu schützen zu versuchen. Denn unter dem Strich führt ein möglichst freier Welthandel eben doch zu einer Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt. Auch wenn der gegenwärtige Zeitgeist ein anderer sein mag: Genau aus diesem Grund ist der Globalisierung Sorge zu tragen. Bevor sie nur noch eine Erinnerung sein wird.
[1] Die Weltbank definiert die Grenze zu extremer Armut («extreme poverty») bei einem Tageseinkommen von 2.57 Dollar (2023-Preisniveau).
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