Der britische Sonderfall – oder: «Nein, sie spinnen nicht!»

In Grossbritannien wird das Unterhaus neu gewählt. Der wahrscheinliche Wahlausgang steht dabei quer zur europäischen Politik. Auch wirtschaftlich unterscheidet sich das Königreich derzeit von Kontinentaleuropa. Und das positiv.

Comic-Held Obelix pflegt es zwar meistens über die Römer zu sagen. Doch auch die Bewohner Grossbritanniens werden mit seinem typischen Ausspruch bedacht: «Die spinnen, die Briten!» So weit wollen wir an dieser Stelle nicht gehen. Doch Fakt ist, dass die Einwohnerinnen und Einwohner des Königreichs tatsächlich etwas anders zu ticken scheinen, als dies im übrigen Europa der Fall ist.

Rechtsrutsch? Nicht in Grossbritannien

Dies zeigt sich wahrscheinlich zum nächsten Mal bei den Parlamentswahlen vom kommenden Donnerstag. Nach 14 Jahren zeichnet sich immer mehr ab, dass die britischen Konservativen (Tories) nicht mehr die Regierung stellen und die Macht an die mitte-links gerichtete Labour verlieren werden. Eine politische Verschiebung, die im Gegensatz zum generellen Rechtsrutsch in Europa steht. Zur Erinnerung: Italien wird bereits von Giorgia Meloni der rechtskonservativen Fratelli d’Italia regiert. In den Niederlanden ist seit kurzem eine Regierungskoalition in Amt, die vom Rechtsaussen-Politiker Geert Wilders (Partij voor de Vrijheid) angeführt wird. Im politisch komplexen und fragmentierten Belgien deuten die Zeichen auf eine Regierungskoalition unter Bart De Wever, dessen flämisch-nationalistische N-VA als klare Siegerin aus den Parlamentswahlen hervorging. Die deutsche Ampel-Koalition wiederum wird von der rechten AfD buchstäblich vor sich hergetrieben, an der tatsächliche und vermeintliche Skandale sowie breit angelegte Abwehrrhetorik der übrigen Parteien («Brandmauer») abzuprallen scheinen. In Frankreich schliesslich ist es gut möglich, dass das rechtskonservative Rassemblement National schon in zwei Wochen die Regierung stellen wird. Und in diesem Umfeld rückt das Vereinigte Königreich eher nach links? Sie ticken eben doch anders, die Briten.

Ob es eine Überzeugungswahl sein wird, ist dabei fraglich. Plausibel scheint auch, dass sich das britische Wahlvolk primär von «Hauptsache irgendetwas anderes» leiten lässt. Denn es gibt vieles, womit die Briten hadern. Vom maroden und chronisch überlasteten Gesundheitssystem über einen Eisenbahnverkehr, der es punkto Verspätung und Unzuverlässigkeit durchaus mit der Deutschen Bahn aufnehmen kann, bis hin zu teilweise desolater Infrastruktur und den omnipräsenten Zuwanderungsproblemen – es gibt einige Gründe, warum breite Bevölkerungskreise das Vertrauen in den politischen Betrieb verloren haben und dabei sind, in Pessimismus zu verfallen.

Das Wirtschaftswachstum kann sich sehen lassen

Obschon die Briten bekannt sind für ihren Stoizismus und ihre Geduld (diese müssen sie wohl oder übel haben, wenn man z.B. bedenkt dass sie 2022-2023 zusammengenommen rund 800 Jahre in der Telefonwartschleife der Steuerbehörde ausharren mussten), ist derzeit weder von «Keep Calm and Carry on» noch von «Keep a Stiff Upper Lip» viel zu spüren.

Das ist zumindest auf den zweiten Blick durchaus etwas verwunderlich. Denn so wahnsinnig schlecht läuft es im Königreich gegenwärtig gar nicht. Das Wirtschaftswachstum im ersten Jahresviertel etwa belief sich auf 0,6 Prozent (gegenüber Vorquartal) und liegt damit doppelt so hoch wie jenes der Eurozone, der EU oder der Schweiz, wo das Bruttoinlandprodukt um jeweils 0,3 Prozent wuchs. Im Gegensatz zur EU und zur Währungsunion benötigte die britische Wirtschaft zwar ein Quartal länger, um aus der Corona-Delle herauszufinden. Gleichzeitig wetzte sie die Konjunktur-Scharte aber früher aus als beispielsweise Europa-Schwergewicht Deutschland und hat das Vor-Corona-Niveau bereits auch deutlicher hinter sich gelassen (siehe Grafik).

Die Nase vorn haben die Briten zudem bei der Inflationsbekämpfung. Fast ein wenig unbeachtet gelang der Bank of England (BoE), woran sich die Europäische Zentralbank (EZB) weiterhin die Zähne ausbeisst: Die Jahresteuerung fiel im Mai zum ersten Mal seit fast drei Jahren auf die Zielmarke von 2 Prozent. In der Eurozone stieg die Inflation zuletzt wieder von 2,4 auf 2,6 Prozent an.

Ja kein voreiliger Freudetaumel

In Euphorie über die gesunkene Teuerung mag auf der Insel jedoch niemand so richtig ausbrechen. Zu hoch liegt der Preisauftrieb immer noch bei wichtigen Ausgabeposten (die Gesundheitskosten etwa stiegen erneut um hohe 6,2 Prozent). Und dass die Teuerung im aktuellen Umfeld ein zu launisches Wesen ist, um aufgrund eines einzelnen Wertes den Sieg bei der Inflationsbekämpfung zu vermelden, weiss man auch in London. Dementsprechend betont zurückhaltend gibt sich die BoE. Sie rechnet weiterhin mit einer durchschnittlichen Teuerung von 2,5 Prozent im zweiten Halbjahr, was natürlich auch das Zinssenkungspotenzial limitiert. Aktuell liegt der Leitzins im Königreich bei 5,25 Prozent.

Dennoch – unter den Blinden ist schliesslich der Einäugige König – sollte die Inflationsentwicklung in Grossbritannien auch nicht übermässig kleingeredet werden. Denn gefeit vor einem zumindest zeitweiligen erneuten Anziehen des Preisauftriebs ist derzeit kaum ein Wirtschaftsraum. Und gerade für die Eurozone erachten wir die Aufwärtsrisiken nicht zuletzt wegen der Lohnentwicklung als erhöht.

Ein wenig Gelassenheit, bitte

Mit dem tieferen Inflationsniveau sieht die Ausgangslage in Grossbritannien aber insgesamt doch etwas besser aus, als dies in der Währungsunion der Fall ist. Erfährt die britische Wirtschaft trotz aller Probleme und Herausforderungen keinen herben Dämpfer, präsentiert sich der mittelfristige Ausblick für die Insel folglich aufgehellter, als es die pessimistische Stimmung insgesamt vermuten lässt. Ein bisschen mehr ihrer sprichwörtlichen Gelassenheit wäre für die Briten nicht fehl am Platz. Vielleicht hilft hierbei die eine oder andere Tasse Tee – oder noch besser: Das eine oder andere Bier, um dem Pub-Sterben entgegenzuwirken. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

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