Der Migros-Pionierfonds feiert ein doppeltes Jubiläum: 2021 wurde die Schwelle von 100 Projekten mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 100 Millionen Franken erreicht. Der Leiter Stefan Schöbi erklärt die Besonderheiten dieses Förderfonds, der u.a. von der Migros Bank mitfinanziert wird.
Der Migros-Pionierfonds setzt auf Mut: Er fördert mutige Pionierprojekte, welche die Welt mit nachhaltiger Wirtschaft und sozialem Miteinander voranbringen. Was heisst Mut für dich persönlich?
Stefan Schöbi: Mut heisst für mich, mit Risiken umgehen, statt Risiken zu umgehen. Mit Risiken leben heisst, die Augen nicht vor ihnen verschliessen. Nur mit einer guten Portion Mut kann man grosse Herausforderungen angehen.
Dein Team begleitet Pionierprojekte drei bis fünf Jahre lang. Wie unterscheidet sich diese Begleitung von dem, was traditionelle Programme und Plattformen für Jungunternehmen bieten?
Unsere Projekte sind nicht Startups im klassischen Sinne. Der Businessplan ist zwar auch zentral. Aber ebenso wichtig ist die gesellschaftliche Wirkung, die sie erreichen wollen, das Umdenken, das sie auslösen möchten. Nur wenn beides Hand in Hand geht, sind sie erfolgreich.
Heisst «erfolgreich», dass die Projekte nach einigen Jahren finanziell selbsttragend sein müssen?
Wenn das Projekt eine klare gesellschaftliche Wertschöpfung schafft, bestehen sehr gute Chancen für Finanzierungsmöglichkeiten. Die Schweiz hat eine vielfältige Stiftungslandschaft, und auch ausserhalb davon gibt es immer mehr Kapitalgeber*innen für sogenanntes Impact Investing – also Investitionen, die eine nachweisbare gesellschaftliche Wirkung verfolgen.
Steht hinter den Projekten des Migros-Pionierfonds auch ein anderer Menschentyp als bei klassischen Startups?
Wir haben es beim Pionierfonds mit Menschen zu tun, bei denen der Wunsch, die Welt zum Besseren zu verändern, ganz zuoberst steht. . Changemakers werden sie genannt, und ich denke, das ist ein schöner Begriff – Menschen, die den gesellschaftlichen Wandel aktiv angehen und beschleunigen. Dazu braucht es Überzeugung und Hartnäckigkeit. Es ist unsere Aufgabe, diesen Enthusiasmus der Changemakers so zu lenken, dass sie zusätzlich zu ihrer Vision für eine gesellschaftliche Veränderung auch einen Businessplan für die realistische Umsetzung ihrer Ideen entwickeln.
Die Förderverträge des Migros-Pionierfonds mit den Changemakers enthalten ein «Copy left» statt «Copyright». Was ist damit gemeint?
Unsere Förderprojekte verstehen sich als Modelle. Sie erreichen eine maximale Wirkung, wenn möglichst viele sie kopieren, sie nachahmen oder sich zumindest überlegen, was sie daraus lernen können. Aus diesem Grund dokumentieren wir die Erfolge und Misserfolge sehr transparent und stellen die Erfahrungen zur Verfügung. «Copy left» ist also eine Frage der Wirkung. Wir bilden uns nicht ein, mit einer einzelnen Fallstudie die Welt zu verändern. Erst wenn ein Modell Schule macht, haben wir einen Hebel.
Der Migros-Pionierfonds hat seit seiner Gründung 100 Millionen Franken in 100 Projekte investiert. Wie verteilt sich das auf die sieben Themenbereiche, die der Migros-Pionierfonds verfolgt?
Es verteilt sich ziemlich gleichmässig. In jüngster Zeit fokussieren wir auf die Themenfelder «Mensch & Digitalisierung», «kollaborative Innovation» und «Kreislaufwirtschaft». Im Feld «kollaborative Innovation» haben wir am meisten Förderprojekte, da wir hier gleich mehrere dringliche gesellschaftliche Fragestellungen angehen. Die Klimakrise etwa. Oder den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft. Das sind Fragestellungen, für die nur mit vereinten Kräften Lösungsansätze gefunden und umgesetzt werden können.
Welche Rolle spielt innerhalb der Themenbereiche der Austausch zwischen thematisch ähnlich gelagerten Förderprojekten?
Eine sehr grosse Rolle! Die Pionier*innen der laufenden und abgeschlossenen Projekte bilden ein Netzwerk, in dem ein reger Erfahrungsaustausch stattfindet – auch über die einzelnen Themenbereiche hinweg. Die Community ist der Schlüssel, um ein Projekt noch stabiler und resilienter zu machen.
Pro Jahr 150 Ideen geprüft
Der Migros-Pionierfonds sucht nach Projekten mit einem langfristigen gesellschaftlichen Nutzen. Er nimmt keine Gesuche entgegen, sondern betreibt ein eigenes Scouting. Pro Jahr werden so etwa 150 Ideen geprüft, aus denen jeweils 10 bis 15 neue Projekte resultieren. Diese werden während drei bis fünf Jahren finanziell und mit Coaching begleitet. Der Migros-Pionierfonds verfügt über jährlich rund 15 Millionen Franken und wird von Unternehmen der Migros-Gruppe wie Migros Bank, Denner, Migrol oder migrolino getragen.
Wie findet der Migros-Pionierfonds die «richtigen» Pionier*innen und Pionierprojekte?
Das ist der Kern unserer Aufgabe, und es ist keine leichte. Wir haben in unseren Themenschwerpunkten klare Suchfelder definiert – Zielsetzungen, von denen wir denken, dass sie für unsere Welt und Gesellschaft von besonderer Bedeutung sind. Die Extraktion des CO2 aus der Luft gehört dazu, ebenso die aktive Teilnahme an der Demokratie oder die Nutzung der Digitalisierung für die brennendsten gesellschaftlichen Fragen. Wir starten meist bei Ideen, von denen wir Wind bekommen. Ideen von denen jemand sagt: «Das müsste man doch machen.» Dann beginnt ein langer Weg der Prüfung und Planung eines Vorhabens, auf dem wir auch die beteiligten Pionier*innen auf Herz und Nieren testen. Sind sie flexibel genug, um Gelerntes schnell umzusetzen? Haben sie die nötige Ausdauer? Spielen sie als Team gut zusammen und können gemeinsam auch anspruchsvolle Krisen überstehen?
Du leitest seit der Gründung 2012 den Migros-Pionierfonds. Was waren die grössten Erfolge in dieser Zeit?
Fast jedes Projekt erlebt anspruchsvolle Krisen. Mein grösster Erfolg ist, wenn sich diese überwinden lassen und ein Projekt den Durchbruch erlebt. Wenn z.B. bei Stop Hate Speech der Algorithmus für die Erkennung der Hassreden plötzlich greift. Wenn Twiliner für ihren Nachtreisebus in den Medien landet und Zuspruch findet. Oder wenn der Umsatz mit nachhaltiger, regional produzierten Mode bei Laufmeter wächst und der Break-even näher rückt.
Umgekehrt: Wo gab es Enttäuschungen?
Wir haben auf der bisher neunjährigen Reise des Migros-Pionierfonds enorm viel gelernt und unseren Ansatz laufend weiterentwickelt. Und das werden wir auch in Zukunft tun. Die Wahrheit ist: Aus Fehlern lernt man am meisten, Erfolge hingegen sind manchmal heimtückisch, weil sie oft verklärt werden. Es gab Projekte, die wir abbrechen mussten, weil entweder das Businessmodell sich nicht als tragfähig erwies oder das Team aufgab. Zum Glück waren das Einzelfälle.
Eine wichtige Veränderung erfolgte 2021 mit der gemeinsamen Dachmarke Migros-Engagement für Migros-Pionierfonds, Kulturprozent und Migros-Unterstützungsfonds. Sucht man seither auch mehr Gemeinsamkeiten im operativen Geschäft?
Hinter den Kulissen befanden wir uns im operativen Geschäft schon immer im engen Austausch mit unseren Schwester-Förderinstrumenten. Mit den nationalen Förderprogrammen des Migros-Kulturprozent teilen wir das Büro, seit es uns gibt.
Der Pionierfonds ist eine Initiative des Migros-Genossenschafts-Bunds. Gibt er auch die Linien vor?
Selbstverständlich stehen wir hinter den Werten der Migros, die auf den Gründer Gottlieb Duttweiler zurückgehen. Auch er war ein Pionier, und unsere Arbeit lässt sich als eine Fortsetzung einer langen Tradition verstehen. Die Migros möchte mit ihrem gesellschaftlichen Engagement einen tatkräftigen Beitrag für eine verantwortungsbewusste Gesellschaft leisten, die ihr Handeln reflektiert und Rücksicht nimmt auf künftige Generationen ebenso wie auf planetare Ressourcen. In der Bearbeitung der Themenfelder werden wir von einem Steuerungsausschuss begleitet, der die inhaltlichen Linien absegnet. In der operativen Umsetzung liegt die Verantwortung bei uns. Es ist eine grosse und grossartige Besonderheit der Migros, dass sie ihren Mitarbeitenden so viel Vertrauen und Verantwortung in die Hände legt. Das motiviert uns, täglich unser Bestes zu geben.
Wie geht es mit dem Migros-Pionierfonds in den nächsten Jahren weiter? Wo liegen seine künftigen Schwerpunkte?
Bis jetzt haben wir 100 Pionierprojekte unterstützt. Das sind 100 und mehr Herausforderungen, Fehlversuche und Frustmomente, aber auch 100 und mehr Erfolge, die Mut machen. Wir nehmen das Jubiläum deshalb zum Anlass, die gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse aus den vergangenen neun Jahren mit den Pionier*innen der Schweiz zu teilen. Mit der Initiative «Von 0 auf 100» entsteht ein Handbuch und eine Austauschplattform mit praktischen Tipps, Tools und Werkzeugen für Menschen, die ihren mutigen Ideen Taten folgen lassen wollen. Denn wir wollen, dass noch viel mehr Pionier*innen ihre mutigen Ideen an den Start bringen. Mit uns, aber vor allem auch ohne uns. Inhaltlich werden wir unsere Themenschwerpunkte laufend anpassen und ergänzen. Denn eines ist sicher: Grosse gesellschaftliche Herausforderungen gibt es derzeit eher zu viele als zu wenige. Die Arbeit geht uns also noch lange nicht aus.