Das massenhafte Verschwinden der britischen Pubs ist nicht nur ein kultureller Verlust. Es ist auch symptomatisch für den angeschlagenen Zustand des Königreichs und für einen Strukturwandel, der auch vor dem Ärmelkanal nicht halt macht.
Sei es nun beruflich oder privat: Bei einem Aufenthalt im Vereinigten Königreich gehört er einfach dazu wie die Bärenfellmütze zum Grenadier Guard: der Besuch in einem Pub. Ein anstrengender Konferenz-Marathon oder ein Streifzug durch London? Selbstredend endet der Tag an jenem Ort, der mit Fug und Recht als erweitertes Wohnzimmer der Briten bezeichnet werden kann.
Ein Stück britische Kultur
Und wenn man dann ein kleines bisschen (okay, seien wir ehrlich: ein grosses bisschen) später das Pub verlässt – selbstverständlich nicht ansatzweise schwankend – kommt man als Kontinentaleuropäer nicht umhin, diese heilige Stätte des geselligen Feierabend-Drinks als möglichweise grösstes britisches Kulturgut in Erwägung zu ziehen. Nicht Fussball und Konservendosen oder Telefon und Glühbirne – das Pub muss definitiv die britische Errungenschaft sein, gelangt das (allenfalls durch das eine oder andere Pint nicht ganz objektive) Gehirn zum unumstritten weisen Schluss. Cheers on that!
Doch, oh my goodness: Das kollektive Kaminfeuer des Königreichs ist in ernsthafter Gefahr. Denn unter den britischen Pubs hat von den Shetlandinseln bis Plymouth das grosse Massensterben eingesetzt. Die Hoffnung der britischen Volkseele, es handle sich bei diesem Phänomen lediglich um einen Corona-Effekt, musste schon seit längerer Zeit begraben werden. Alleine 2023, dem zweiten vollen Jahr ohne einschränkende Coronamassnahmen, schlossen rund 500 Pubs ihre Türen für immer. Seit der Jahrtausendwende machten im ganzen Königreich sogar mehr als 15’000 Pubs die Schoten dicht (siehe Grafik).
Das Läuten der Glocke und das energische «Last Order!» stösst zwar selten auf begeisterte Zustimmung, erhält aber vor dem Hintergrund massenhaft schliessender Betriebe eine zusätzliche Tristesse, die sich auch mit dem kühlsten Guinness nicht hinunterspülen lässt. Denn mit jedem Pub verschwinden nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Institutionen der sozialen und gesellschaftlichen Durchmischung sowie Horte der gelebten Gleichheit. Wann immer gerade im noch immer sehr klassenbewussten Grossbritannien das Gefühl aufkeimt, dass hie und da vielleicht doch nicht immer mit gleichlangen Ellen gemessen wird, mag die Gewissheit um einen Ort ohne irgendwelche Unterschiede durchaus tröstlich erscheinen. Nicht unbedingt vor dem Gesetz, aber wenigstens vor dem Bartender sind wir alle gleich, for god’s sake!
Die Inflation schlägt auf die Laune
Dass es den Pubs an den Kragen geht, hat mannigfaltige Gründe. Erstens macht die noch immer deutlich überschiessende Inflation auch vor den Bartresen und Zapfhähnen nicht halt: Eine durchschnittliche Preissteigerung von beinahe 90 Prozent in den letzten zehn Jahren für ein Pint (siehe Grafik) schlägt wohl nicht unerheblich auf den auswärts verspürten Durst und verführt wohl nicht wenige Briten dazu, das Feierabendbier zu Hause zu geniessen – my home is my castle. Oder eben my pub.
Zweitens bekommen die Pubs die Zweitrundeneffekte des Trends zu Homeoffice oder hybriden Arbeitsmodellen zu spüren. Dies macht sich vor allem in den grossen Zentren besonders bemerkbar, wo die Gleichung denkbar einfach ist: weniger Leute in den Büros gleich weniger Leuten in den Pubs. As simple as that.
Konjunkturbaisse sorgt für Verunsicherung
Und drittens befindet sich das Königreich seit dem EU-Austritt in einer veritablen Konjunkturflaute und schrumpfte im Schlussviertel 2023 gar um -0,3 Prozent gegenüber Vorperiode. Da bereits im dritten Quartal ein Rückgang des Bruttoinlandprodukts zu verzeichnen war (-0,1 Prozent), rutschte die britische Wirtschaft damit in eine technische Rezession, aus der sie nur mühsam wieder herausfindet. Zwar zeigte sich die Bank of England anlässlich des Zinsentscheids vom Donnerstag, 21. März 2024, zuversichtlich, dass die inflationsseitige Entspannung sich fortsetzen wird. Aber die Brexit-Nachwehen, innenpolitische Zerstrittenheit und ein konjunkturell schwächelndes Kontinentaleuropa schieben eine deutliche Wirtschaftserholung vor sich hin. Das sorgt für breite Verunsicherung, die sich unter anderem auch in einer Zurückhaltung an der Theke niederschlägt, oh dear!
Indeed, die Briten sind nicht zu beneiden. Die Queen ist tot, das Empire ist nur noch ein Schatten seiner einstigen Grösse, die Wirtschaft liegt darnieder und die Pubs sterben wie die Fliegen. Da ist guter Rat teuer. «Keep calm and carry on!» hilft da nur beschränkt weiter. Oder vielleicht doch? Zumindest gegen die letzten beiden Punkte können die Briten ein ganz klein wenig selbst ankämpfen – und dies erst noch auf eine ebenso unkomplizierte wie angenehme Art: indem sie einfach weiter ins Pub gehen und dort ihr Pint trinken. Zumindest ich werde beim nächsten London-Aufenthalt meinen Beitrag leisten. Slàinte!
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