Grossbritannien: Ein Schritt nach vorn, aber der Weg ist lang

Der Rückgang der Inflation erhöht den Handlungsspielraum der Bank of England für Zinssenkungen. Gleichzeitig setzt sich die Erholung der britischen Wirtschaft fort, die im ersten Halbjahr 2024 stärker gewachsen ist als die der Eurozone. Mittelfristig wird das Potenzialwachstum durch strukturelle Faktoren gedämpft.

Auch im Vereinigten Königreich setzt sich die sogenannte Desinflation fort, also der Rückgang der Inflationsraten: Im September lag die Teuerung erstmals seit April 2021 wieder unter dem Ziel der Bank of England (BoE) von 2 Prozent. Der aktuelle Wert von 1,7 Prozent zeigt eine deutliche Entspannung des Preisauftriebs, der im Oktober 2022 mit 11,1 Prozent den höchsten Stand der letzten 40 Jahre erreichte und zu Jahresbeginn noch bei über 4 Prozent lag.

Die Rückkehr der Teuerung unter den Zielwert der BoE ist eine gute Nachricht für die britischen Währungshüter, denn die britische Regierung auferlegt ihnen, eine Inflation von 2 Prozent anzustreben. Liegt die Teuerung um einen Prozentpunkt über oder unter dem Zielwert, muss der Gouverneur der BoE, der Chancellor of the Exchequer, der dem britischen Finanz- und Wirtschaftsministerium vorsteht, über die aktuelle Entwicklung informieren und darlegen, mit welchen Massnahmen die Inflation wieder in Richtung des Zielwerts gebracht werden soll. So reagierte die BoE bereits im Dezember 2021 mit der ersten Zinserhöhung unter den grossen Notenbanken auf den zunehmenden Preisdruck. Nach 14 Zinsschritten wurde im August 2023 mit 5,25 Prozent der Höhepunkt erreicht. Auf diesem Niveau verharrte die bank rate ein Jahr lang, bevor die BoE im vergangenen August mit einer Zinssenkung von 25 Basispunkten die Zinswende einleitete. Aufgrund der jüngsten Inflationszahlen ist es nach Aussagen vom BoE-Gouverneur Andrew Bailey mit einem etwas aggressiveren Kurs zu rechnen: Bis zum Jahresende dürfte der Leitzins noch zweimal um jeweils 25 Basispunkte gesenkt werden.

Die Talsohle ist durchschritten…

Die rasche Straffung der ursprünglich expansiven Geldpolitik machte sich in der britischen Wirtschaft bemerkbar. Insbesondere im Jahr 2023 stagnierte das Wirtschaftswachstum, als die Nachholeffekte des Konsums nach der Pandemie ausliefen und sinkende Reallöhne, stark gestiegene Finanzierungskosten für Investitionen sowie eine schwache Auslandsnachfrage zur konjunkturellen Flaute beitrugen. Im laufenden Jahr hat die britische Wirtschaftsleistung wieder an Schwung gewonnen. Eine Rezession konnte nach zwei rückläufigen Quartalen im zweiten Halbjahr 2023 vermieden werden, da das britische Bruttoinlandprodukt (BIP) zu Jahresbeginn um 0,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal zulegte. Das Wirtschaftswachstum schwächte sich im zweiten Quartal 2024 leicht auf 0,5 Prozent ab, deutet aber weiterhin auf eine allmähliche Verbesserung der Konjunktur jenseits des Ärmelkanals hin.

Wie in anderen westlichen Ländern war der private Konsum die treibende Kraft. Die britischen Haushalte profitierten im laufenden Jahr von Reallohnzuwächsen, die allerdings die Kaufkraftverluste der beiden Vorjahre nur teilweise ausgleichen konnten. Das allgemeine Preisniveau ist innerhalb von vier Jahren um rund 23 Prozent gestiegen. Wie in anderen westlichen Ländern wird die Inflation derzeit von den Preisen für Dienstleistungen und insbesondere von den stark gestiegenen Mieten getrieben.

… aber die strukturellen Probleme bleiben bestehen

Vor allem in den britischen Grossstädten ist der Mietmarkt so überhitzt, dass die Wohnungsnot zu einem brisanten politischen Thema geworden ist. Das Mietrecht wurde in den 1980er Jahren zugunsten der Vermieter dereguliert und die Bautätigkeit ist aufgrund der hohen Grundstücks- und Immobilienpreise sowie der gestiegenen Finanzierungskosten auf einem niedrigen Niveau. Der Anteil der jungen Erwachsenen, die aus finanziellen Gründen noch im Elternhaus wohnen, ist daher stark angestiegen.

Aufgrund der im europäischen Vergleich hohen Wohneigentumsquote von 65 Prozent sind die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Mietsteigerungen auf das verfügbare Einkommen der britischen Haushalte geringer als anderswo. Dies gilt insbesondere für Personen, die von niedrigeren Hypothekarzinsen für die langfristige Immobilienfinanzierung – in Grossbritannien in der Regel 25 Jahre – profitieren konnten. Die heutigen Kaufinteressenten sehen sich dagegen mit hohen Finanzierungskosten und Immobilienpreisen konfrontiert. Trotz des starken Zinsanstiegs kam es nur zu einer leichten Korrektur auf hohem Niveau, und im laufenden Jahr haben die Immobilienpreise wieder zu steigen begonnen.

Überteuerte Mieten und keine Möglichkeit, ein Haus zu kaufen. So geht es vielen Britinnen und Briten. Abgerundet wird das düstere Bild durch den maroden Zustand des staatlichen Gesundheitssystems National Health Service (NHS), das grundlegend reformiert werden muss. Hohe Kosten, sehr lange Wartezeiten und eine geringe Patientenzufriedenheit kennzeichnen das öffentliche Gesundheitswesen. Die Regierung um den im Juni neu gewählten Premierminister Keir Starmer will dem NHS mit einem 10-Jahres-Plan einen Neuanfang ermöglichen. Die Kosten der Reform sind noch unbekannt, aber es handelt sich um eine Mammutaufgabe mit gravierenden Folgen für die ohnehin defizitären Staatsfinanzen (Fiskaljahr 2023/2024: -4,2 Prozent des BIP). Wie die Labour-Regierung diese und weitere angekündigte öffentliche Investitionen in die Infrastruktur ohne Steuererhöhungen für die britische Bevölkerung finanzieren will, ist noch unklar. Die Aufnahme neuer Staatsschulden ist ein Weg, der nur teilweise beschritten werden kann, da im laufenden Jahr die Schuldenquote von 100 Prozent des BIP überschritten wird.

Soziale Unruhen, eine hohe Staatsverschuldung, die die Investitionsfähigkeit des Staates beeinträchtigen könnte, und die zum Teil noch zu verhandelnden Beziehungen zur Europäischen Union: Das Vereinigte Königreich wird im kommenden Jahr mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert sein, die das mittelfristige Wachstumspotenzial seiner Wirtschaft und letztlich den Wohlstand der britischen Bevölkerung bestimmen werden. Man muss aber nicht den Teufel an die Wand malen: Britische Unternehmen sind auch in einigen Zukunftsfeldern weltweit führend oder sogar Technologieführer. Man denke nur an KI, Big Data, Cyber Security, Militärtechnik oder Fintech. Auch wenn das jährliche Wachstumsziel von 2,5 Prozent nicht erreicht wird, dürfte Grossbritannien vorerst zu den wachstumsstärksten Volkswirtschaften gehören, insbesondere im europäischen Vergleich.

Auch im Umweltbereich macht Grossbritannien Fortschritte: Ende September wurde das letzte Kohlekraftwerk auf der Insel vom Netz genommen. Damit endete eine 142-jährige Phase der Kohleverstromung.

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