Donald Trump wurde bei einer Wahlkampfveranstaltung Opfer eines Anschlagsversuchs. Dabei wurde der republikanische Präsi-dentschaftskandidat nur leicht am Ohr verletzt. Trotz dieses Glücks im Unglück sitzt der Schock in den USA tief. Dieser wird schon bald von der Frage verdrängt werden, was das Attentat für das Rennen um das Weisse Haus bedeutet. So eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint, fällt die Antwort darauf nicht aus.
Trotz dessen polarisierend-angriffigen Art, ist die Fassungslosigkeit über den Anschlagversuch auf Donald Trump gross. Dass auf einen Kandidaten an einer Wahlveranstaltung geschossen wird, dieser nur knapp tödlichen Treffern entgeht und zudem auch Zivilpersonen zu «Zufalls-Opfer» werden, stösst auf Unverständnis. Doch dieser kollektive Schreckmoment wird bald einmal Überlegungen weichen, was der Anschlag für den erbitterten und unversöhnlichen Wahlkampf bedeutet. Auf den ersten Blick scheint dabei klar – Donald Trump und die Republikaner werden das Ereignis auszuschlachten und für sich zu nutzen wissen. Doch ist die Sache tatsächlich so eindeutig?
Wenn auf den Anführer geschossen wird, findet das amerikanische Volk in der Regel zu einem engen Schulterschluss zusammen. Rally-’round-the-Flag nennt sich dieser Effekt. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist das Attentat von 1981 auf Ronald Reagan, der nur schwer verletzt überlebte. Der republikanische Präsident verzeichnete bei seiner Amtseinführung eine Zustimmungsrate von 51 Prozent. Nach dem Anschlag stieg diese zwischenzeitlich auf 68 Prozent an. Die Wiederwahl gelang Reagan mit überwältigender Mehrheit.
Eine noch nie dagewesene Situation
Der Vergleich zur aktuellen Situation ist jedoch nur beschränkt tauglich. Denn erstens handelt es sich mit Donald Trump nicht um einen amtierenden, sondern um einen ehemaligen Präsidenten, der zugleich aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat ist. Zweitens ist das politische Klima in den USA so stark aufgeheizt wie wohl seit des Vietnamkrieges nicht mehr. Eine Aufheizung zu der nicht zuletzt auch Trump selbst massgeblich beiträgt. Und Drittens wurde der Republikaner weder getötet noch schwer verletzt. Das ist auf jeden Fall höchst erfreulich. Es heisst aber auch, dass das Land nicht in Trauer, bzw. Bangen vereint ist.
Vor diesem Hintergrund erscheint das «Sammeln unter der Flagge» nicht unausweichlich, sondern es sind vielmehr zwei mögliche Szenarien denkbar: So könnte Joe Biden das Momentum für sich nutzen, das sich ihm nun bietet. Die Aufmerksamkeit ist zumindest in den nächsten Tagen nicht mehr primär auf seine kognitiven Defizite gerichtet, sondern auf sein Verhalten als US-Präsident. Kann er sich dem amerikanischen Volk als umsichtigen Landesvater präsentieren, der zur Besonnenheit aufruft, Empathie für seinen Erzrivalen zeigt und dem es allenfalls sogar gelingt, politische Gräben zuzuschütten, könnte dies seiner in arge Bedrängnis geratenen Kampagne frischen Aufwind verschaffen.
Wiederholt sich die Geschichte?
Möglich wäre aber auch, dass die Demokraten gerade eine Wiederholung des Effektes der Kapitol-Stürmung erleben – sozusagen mit umgekehrten Vorzeichen. Denn eine Strategie der Republikaner könnte sein, den Demokraten die moralische Verantwortung zuzuschieben, weil diese mit ihrer Verteufelung Trumps als faschistischen Totengräber der amerikanischen Demokratie dessen Eliminierung zumindest stillschweigend als eine gute Bürgertat legitimieren. Erste Kommentare hoher Parteifunktionäre lassen ein solches Vorgehen zumindest nicht ausschliessen. So sagte etwa J.D. Vance – Senator von Ohio und notabene möglicher Vizepräsident Trumps – dass genau diese Rhetorik der Demokraten direkt zum Anschlagsversuch geführt hätte. In diesem Fall würde der gnadenlose Wahlkampf tatsächlich noch eine Spur gehässiger werden.
Wer profitiert von welcher Entwicklung?
In welche Richtung auch immer sich der Kampf um die nächste Präsidentschaft entwickeln wird: Weder für die Konjunkturentwicklung noch für Anlegerinnen und Anleger wird dies unmittelbare und signifikante Konsequenzen haben. Die Auswirkungen sind wahrscheinlich eher gradueller Natur. So dürfte bei einem Erstarken der Biden-Kampagne jene Unternehmen etwas mehr Gegenwind verspüren, die besonders von einer Präsidentschaft Trumps und einem damit einhergehenden Deregulierungsschub profitieren würden. Auf der anderen Seite wäre wohl in Europa ein gewisses Aufatmen zu vernehmen, da das amerikanische Bekenntnis zur NATO nicht mehr so akut zu Debatte stünde, wie dies unter einer Administration Trump zu erwarten wäre. Ein leichter Rückgang der Risikoprämien auf europäischen Staatsanleihen ist in diesem Fall durchaus denkbar.
Die Welt braucht ein handlungsfähiges Amerika
Gelingt es den Demokraten jedoch nicht, die Deutungshoheit über das Attentat zu erlangen und Joe Biden als umsichtigen Landesvater zu positionieren, wird der Anschlag zu einem weiteren herben, womöglich entscheidenden Rückschlag im Rennen um das Weisse Haus.
Wie auch immer dieses Rennen ausgehen mag: Für die Freie Welt bleibt zu hoffen, dass sich die USA dabei nicht in innenpolitischen Auseinandersetzungen selbst aufreiben. In einer geopolitischen Lage, die so angespannt ist, wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr, böte sich mit einem nur beschränkt handlungsfähige Amerika eine gefährliche Situation.