Die Krux mit den Szenarien

In der Vermögensverwaltung sind Prognosen und Szenarien von grosser Bedeutung: Szenarien tragen massgeblich dazu bei, dass die Anlagestrategie widerspruchsfrei ist. Das Erstellen von Szenarien kann Ökonomen allerdings an ihre Grenzen bringen.

Kunden weisen mich oft darauf hin, dass volkswirtschaftliche Prognosen nicht sehr treffsicher sind. Besonders schmerzlich führte uns dies die Corona-Pandemie vor Augen, die letzten Herbst noch nicht absehbar war. In der Vermögensverwaltung sind Prognosen und Szenarien dennoch von grosser Bedeutung. Wertschriften-Portfolios sollen langfristig möglichst viel Ertrag abwerfen – und zwar, indem sie möglichst wenig Risiken enthalten. Szenarien tragen massgeblich dazu bei, dass die Anlagestrategie widerspruchsfrei ist: Die Portfolio-Bestandteile sollen so abgestimmt werden, dass sie optimal harmonieren und auf einheitlichen Annahmen beruhen.

Zweistufiger Anlageprozess

Unser Anlageprozess hat zwei Stufen: Auf strategischer Ebene versuchen wir, langfristige Trends zu antizipieren und die Grundstruktur der Portfolios danach auszurichten. Das heisst, wir verteilen das Anlagevermögen auf einzelne Anlageklassen wie Aktien, Obligationen, alternative Anlagen und Liquidität. Anschliessend nehmen wir auf taktischer Ebene die Feinsteuerung vor. Je nach kurzfristigen Entwicklungen – wirtschaftlicher und politischer Art – gewichten wir bestimmte Anlageklassen, Regionen oder Währungen in den Portfolios stärker oder schwächer. Solche taktischen Anlageentscheide fällt unser Anlagekomitee mehrmals pro Jahr.

Drei Varianten

Als Chefökonom bin ich bei diesem Prozess für das volkswirtschaftliche Szenario zuständig. Den Ausgangspunkt jedes strategischen und taktischen Anlageentscheids stellt die gesamtwirtschaftliche Makroanalyse dar. Weil wir die Zukunft nicht kennen, erstelle ich mit meinem Team jeweils ein Basisszenario, ein Positivszenario und ein Negativszenario. Das Basisszenario beschreibt jene Entwicklung des Umfelds, der wir die höchste Wahrscheinlichkeit beimessen. Aus diesem Szenario leiten wir Prognosen für die Finanzmärkte ab und schlagen entsprechende Anlageentscheide vor.

Messen wir dem Basisszenario eine hohe Wahrscheinlichkeit bei, richtet unser Anlagekomitee die Portfoliostruktur stark darauf aus und nimmt entsprechend grosse Unter- und Übergewichtungen bei den Anlageklassen vor. Ist die Wahrscheinlichkeit des Basisszenarios hingegen nicht wesentlich höher als jene des Negativszenarios, gestalten wir die Zusammensetzung der Portfolios neutraler. Das heisst, wir bleiben näher an der strategischen Vorgabe und orientieren uns weniger an kurzfristigen Entwicklungen.

Das Erstellen von Szenarien kann Ökonomen an ihre Grenzen bringen. Es gibt zwar offensichtliche Langzeittrends wie etwa den hohen Überschuss an Kapital, der für anhaltend niedrige Realzinsen sorgt, oder die langfristige Stärke des Frankens, die sich aus der politischen Stabilität der Schweiz und der umsichtigen Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank ergibt. Gerade bei der kurzfristigen Feinsteuerung der Portfolios ist das Augenmerk aber häufig auf kaum vorhersehbare politische Ereignisse wie den Brexit oder den Handelskonflikt gerichtet. Zurzeit kommen medizinische Herausforderungen hinzu: Solange kein Wirkstoff gegen Covid-19 verfügbar ist, können die Einschränkungen der Wirtschaft nicht vollständig gelockert werden. Dies wiederum bedeutet, dass das Risiko erneuter Kursverluste an den Börsen vorerst hoch bleibt.

(Dieser Beitrag erschien in der Juni-Printausgabe von «Die Volkswirtschaft». Die Publikation ist die Plattform für Wirtschaftspolitik des SECO.)

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