Die Inflationsraten sinken. Die Preise nicht

Die Inflation wird von der Fachwelt anders gelesen, als dass sie von der breiten Bevölkerung erlebt wird. Dies führt zu unterschiedlichen Beurteilungen und Problemwahrnehmungen. Diese können sich auch an der Wahlurne manifestieren.

Nein, ich möchte an dieser Stelle nicht eine weitere vertiefte Analyse der Wahl Donald Trumps vornehmen. Davon gibt es derzeit mehr als reichlich. Ein Aspekt, der zur erneuten Wahl des umstrittenen Ex-Präsidenten führte, scheint mir jedoch einer genaueren Betrachtung wert. Denn die Amerikanerinnen und Amerikaner wählten Donald Trump wohl nicht zuletzt wegen der hohen Preise in ihrem Alltag. Sie machten und machen die Administration Biden für den enormen Anstieg der Lebenshaltungskosten verantwortlich, der ihr Land in den letzten Jahren heimgesucht hat. Die Inflation – sie brennt dem amerikanischen Wahlvolk unter den Nägeln.

Das mag auf den ersten Blick erstaunlich wirken. Denn seit Monaten überschlagen sich die Meldungen über den Rückgang der Inflationsraten.  Von ihrem Höchstwert von 9,1 Prozent hat sich der Preisauftrieb in eineinhalb Jahren auf mittlerweile 2,4 Prozent abgeschwächt. Das Preisstabilitätszielband der Notenbank Fed liegt damit in unmittelbarer Griffweite. Warum also treibt die Teuerung die Menschen immer noch in einem solch hohen Masse um?

«Technokraten»-Inflation vs. Alltagsteuerung

Der Grund liegt meiner Meinung nach einerseits in den unterschiedlichen Herangehensweisen, wie dem Phänomen der Inflation begegnet wird, und andererseits, wie diese erlebt wird. Analysten, Marktakteure oder Geldpolitiker schauen in erster Linie darauf, wie sich die Teuerung im Vergleich zum Vorjahr entwickelt. Sprechen sie von Inflation, meinen sie damit die prozentuale Preisveränderung eines definierten Waren- und Dienstleistungskorbs im Vergleich zu vor zwölf Monaten. Bewegt sich diese Veränderung in einer Spanne von 0 bis 2 Prozent, sind sie sozusagen zufrieden. Denn in dieser Bandbreite verorten die allermeisten Notenbanken die Preisstabilität, und es bedarf – unter Ausklammerung der Konjunkturkomponente – keiner geldpolitischen Impulse zur Befeuerung oder zur Abbremsung des Preisauftriebs.

Diese Leseart der Inflation als jährliche Veränderungsrate zielt jedoch am Alltagsempfinden der Konsumentinnen und Konsument vorbei. Denn diese messen die Teuerung kaum gegenüber dem Niveau von vor einem Jahr, sondern vergleichen den gegenwärtigen Preis mit dem langfristigen Preisniveau, an das sie sich gewohnt sind. Die Verbraucher sind vielfach irritiert darüber, wenn in den Medien von einem Inflationsrückgang die Rede ist, die Alltagspreise aber immer noch gleich hoch ausfallen oder weiter steigen. Der Begriff «Rückgang» deckt sich nicht im Geringsten mit ihrer täglichen Realität im Supermarkt, an der Tankstelle oder bei der Beanspruchung von Dienstleistungen.

Das gewohnte Preisniveau prägt die Wahrnehmung

Während die oben genannten Berufsgruppen bei der Auseinandersetzung mit der Inflation also auf die Jahresveränderung derselbigen abstützen, tut dies die breite Bevölkerung nur in den seltensten Fällen. Am ehesten noch dann, wenn beispielsweise immer zur gleichen Jahreszeit am gleichen Ort der Urlaub verbracht wird. Dann kommt man nicht umhin – und ich spreche hier aus eigener Erfahrung – zu denken: «Um Himmelswillen, jetzt kostet der Kaffee in Italien bereits 1,30 Euro. Letztes Jahr war er doch noch bei 1,10?!?»

Weil Urlaub bei den allermeisten Menschen aber nur einen kleinen Anteil des Jahreskalenders ausmacht, ist dieser intuitiv angestellte 12-Monats-Vergleich aber auch entsprechend rar gesät. Die meiste Zeit über begegnen wir der Inflation mit einem diffusen «Mensch, ist das teuer geworden», ohne dass wir ein konkretes Vergleichsdatum im Hinterkopf haben. Das heisst, wie vergleichen den Preis mit jenem ungefähren Niveau, das aufgrund der langjährigen Erfahrung in uns verankert ist. Erfolgte ein drastischer Inflationsschub, wie wir in zuletzt erlebt hatten, kann dieses Niveau auch gerne mehrere Jahre zurückliegen. In einem solchen Fall betrachten wir noch weniger als sonst die Jahresveränderung der Teuerung, sondern orientieren uns am aufgelaufenen (kumulierten) Preisauftrieb seit Beginn des Inflationsschubs.

Beindruckende aufgelaufene Teuerung…

Diese kumulative Betrachtung ist aus Konsumentensicht deutlich naheliegender und erklärt, warum sich der (technische) Inflationsrückgang so rein gar nicht mit dem Alltagsgefühl decken will. Denn betrachten wir beispielsweise die aufgelaufene Teuerung in den USA, ist durchaus verständlich, warum die Annäherung an das Notenbank-Inflationsziel in der breiten Bevölkerung nicht eben zu Freudesprünge verleitet: Im Vergleich zu vor vier Jahren sind die Preise bereits um 21 Prozent gestiegen (siehe Grafik), und solange die Inflationsrate ein positives Vorzeichen aufweist, klettern sie weiter.

So weit, so nachvollziehbar. Allerdings kommt jetzt das grosse «Aber»: Denn auch wenn wir bei der Inflation statt auf die Veränderungsrate auf die intuitiv naheliegendere Kumulierung abstützen, ist eine isolierte Betrachtung selbstverständlich nicht ausreichend. Denn wie schmerzhaft eine aufgelaufene Teuerung tatsächlich ist, hängt massgeblich auch von der aufgelaufenen Lohnentwicklung und damit der Kaufkraft ab.

…aber noch beeindruckendere Einkommenszuwächse

Es ist simpel: Steigt unser Einkommen über einen bestimmten Zeitraum weniger stark als die Inflation, büssen wir an Kaufkraft ein und als entsprechend schmerzhaft nehmen wir die Teuerung wahr. Steigt hingegen die Inflation weniger stark an als das Einkommen, nimmt die Kaufkraft zu, und die Konsumenten müssten die Teuerung eigentlich als überhaupt nicht problematisch empfinden. Müssten deswegen, weil sich beim Blick auf die USA diese Überlegung nicht zu bestätigen scheinen.

Stellt man nämlich die aufsummierten Einkommensgewinne der kumulierten Teuerung gegenüber (siehe Grafik), zeigt sich das Inflationsbild in einem ganz anderen Licht. Zwar liegt der aufgelaufene Preisauftrieb immer noch bei hohen 21 Prozent aber die kumulierten Haushaltseinkommenszuwächse belaufen sich auf 27 Prozent. Sprich, der typische amerikanische Haushalt hat ein rund 6 Prozent höheres verfügbares Einkommen als 2020. Und trotzdem gaben viele Wähler die Inflation als eines der vordringlichen Probleme an, für dessen Lösung es Donald Trump als Präsidenten braucht.

Der Gewinn bedeutet weniger als der Verlust

Man mag das auf den ersten Blick durchaus verwunderlich finden. Doch die Inflation im Alltag ist mehr als nur als etwas Technisches und Buchhalterisches. Sie ist nicht zuletzt auch ein Phänomen, dem mit einer Art Bauchgefühl begegnet wird. Während Einkommenszuwächse etwas geben (mehr Geld), nimmt die Inflation etwas weg (weniger Kaufkraft). Aus der kognitiven Psychologie weiss man jedoch, dass der Verlust von etwas die stärkeren Emotionen auslöst als der gleich grosse Gewinn von etwas: Gewinnen Sie 20 Franken und verlieren danach diese 20 Franken wieder, ist der Verlustschmerz ungleich höher als die Freude über den Gewinn.

Welche Lehren zieht man daraus? Ich denke, zum einen sollten sich Experten immer wieder vor Auge halten, dass ihre favorisierte Leseart der Inflation – die Veränderungsrate – für breite Bevölkerungsschichten weder besonders intuitiv noch sehr alltagstauglich ist. Zum anderen sollte man sich aber auch bewusst sein, dass selbst bei einer an sich unproblematischen Inflation – also wenn sie mit keinem Kaufkraftverlust einhergeht – die Preissteigerungen dennoch oftmals als tatsächliches Problem wahrgenommen werden, das unbedingt anzugehen ist. Fachwelt- und Alltagswelt driften auseinander, und es kommt zu teilweisen beträchtlichen Wahrnehmungslücken.

Dass solche Lücken existieren können, ist eigentlich eine banale Erkenntnis. Wenn ich mir die zuweilen fast schon überschwängliche Euphorie rund um den Rückgang der Inflationsrate vergegenwärtige, bin ich mir jedoch nicht sicher, ob die Medien und Fachleute um diese Lücken wissen. Ein Donald Trump wusste es.

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