Deutschland: Zwischen zu wenig und zu viel Geld

Deutschland hat die Haushaltskrise mehr schlecht als recht gemeistert. Die Finanzlage bleibt weiterhin angespannt. Gleichzeitig bleiben milliardenschwere Budgetposten unausgeschöpft. Das hat viel mit der deutschen Bürokratie zu tun.

Kennen Sie den? Das Grossprojekt rund um den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs heisst darum «Stuttgart 21», weil es bis zur Fertigstellung 21 Jahre dauern wird. Hahaha. Ich gebe zu – es ist nicht eben ein Witz aus der Kategorie «Schenkelklopfer». Und dennoch – oder gerade deshalb – wohnt ihm mehr als nur ein Körnchen Wahrheit inne.

Längere Dauer, höhere Kosten

Denn beim Mammutunterfangen im Herzen Stuttgarts kommt es immer wieder zu Verzögerungen. Ursprünglich sollten die Arbeiten mit einem Kostenvolumen von drei Milliarden Euro im Jahr 2019 abgeschlossen sein. Daraus ist nichts geworden. Im gleichen Masse, wie die Kosten in den Himmel wachsen, verschiebt sich das Fertigstellungsdatum immer weiter nach hinten. Soeben wurde auch die von der Deutschen Bahn noch im März zugesicherte Inbetriebnahme für 2025 kassiert. Aktueller Stand: Der Bahnknotenpunkt soll frühestens im Dezember 2026 bei aufsummierten Kosten von knapp 12 Milliarden Euro eröffnet werden. Ich würde mit einiger Zuversicht darauf wetten, dass sowohl bei den Kosten als auch beim Fertigstellungstermin das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Man kann dies mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nehmen. Dass unser nördlicher Nachbar so seine liebe Mühe bei der Realisierung von Grossprojekten hat (der schleppende Ausbau der Bahninfrastruktur oder das Fiasko um den neuen Berliner Flughafen sind nur zwei weitere Beispiele), ist denn auch wirklich keine neue Erkenntnis. Allerdings reichen die Konsequenzen dieses etwas saloppen Befundes viel tiefer. Beziehungsweise höher. Nämlich bis in den Finanzhaushalt von Bund und Ländern. Denn infolge regelmässiger Verzögerungen bei Investitionsprojekten verfügt Deutschland – man halte sich fest – über zu viel ungenutztes Geld.

Das ist gelinde gesagt überraschend. Da eilt die aktuelle Bundesregierung von einer Haushaltskrise zur nächsten, die Streichung von Zuschüssen ist ein fester Agendapunkt von Finanzminister Christian Lindner, die Politik streitet über die Aufhebung der Schuldenbremse – und gleichzeitig sollen in den unterschiedlichen staatlichen Töpfen zig Milliarden sozusagen herumliegen? Klingt erstmal paradox, ist aber so.

Geld, das eigentlich niemand haben will

Auflösen lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch wie folgt: Bei den brachliegenden Finanzmitteln handelt es sich um sogenannte Ausgabereste. Und diese kommen eben dann zustande, wenn gesprochene Gelder für Bauprojekte oder sonstige Investitionen nicht termingerecht abgerufen werden. Sprich: Wenn es bei der Realisierung zu Verzögerungen kommt. Und solche Verzögerungen scheinen in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme zu sein – zumindest wenn man sich das Volumen dieser Ausgabereste zu Gemüte führt: Aktuell sitzen Bund und Länder auf ungenutzten Mitteln im Umfang von 76 Milliarden Euro. Tendenz steigend.

Denn während bei den Haushaltsüberschüssen die fetten Jahre vorbei sind, schnellen die Ausgabereste förmlich in die Höhe. Allein seit 2016 verdreifachten sich die ungenutzten Mittel. Beim Bund beliefen sie sich damals auf rund 10 Milliarden Euro. Heute sind es deren 29 Milliarden.

Fragwürdige Haushaltsplanung

Haushaltspolitisch ist diese Entwicklung ein eigentliches Debakel. Zeugt es doch nicht zuletzt von einer Regulierungswut, die nicht selten massgeblich verantwortlich ist für Verzögerungen und Verspätungen bei wichtigen Investitionsprojekten. Doch Deutschland wäre nicht Deutschland ohne seine Bürokratie, und der Hang zum Regulierungswahn steckt tief in der deutschen DNA. Dass dieser nicht von heute auf morgen verschwinden wird, ist auch der Bundesregierung bewusst, und so macht sie eben das Beste daraus. So liess die Ampelkoalition in ihrem Staatsetat für 2025 eine Lücke von 12 Milliarden Euro in der Hoffnung stehen, dass viele verplante Milliarden letzten Endes doch nicht ausgegeben werden. Der Umsetzungsschlendrian als fester Bestandteil des Budgetprozesses. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine umsichtige Haushaltspolitik eigentlich anders aussähe.

Doch obschon die Bundesregierung also weiter mit imposanten Ausgaberesten rechnet, ebbt die Diskussion um eine Aufhebung oder zumindest eine Lockerung der Schuldenbremse nicht ab. Die entsprechenden Forderungen kommen dabei nicht nur aus der üblichen Ecke des politischen Spektrums, sondern auch von der Wirtschaftsseite. Gegenwärtig preschen verschiedene Vebände vor, etwa der Industrieverband Feuerverzinken, der Verband Bauforum Stahl, der Mittelstandsverband BVMW, der Bundesverband der Energie-Abnehmer VEA und der WV Metalle. Ihre zentralen Forderungen an Wirtschaftsminister Robert Habeck: Unternehmen, die in energieeffiziente Anlagen investieren, sollen eine Kostenbeteiligung von 25 Prozent und zudem einen «mittelstandsfreundlichen Dekarbonierungsstrompreis» erhalten. Heisst übersetzt: Mehr Subventionen.

Die Schuldenbremse als Dorn im Auge

Weil ein solcher Unterstützungsausbau in Zeiten klammer Staatskassen (eine Umwidmung der Ausgabereste ist aufgrund der Zweckgebundenheit nicht möglich) so seine Tücken hat, liefert der Industrieverband Feuerverzinken gleich eine Auftragsstudie mit, die den Weg zu mehr Staatsgeld ebnet. Kernstück dieses Papiers ist die Idee einer Neuberechnung der sogenannten Konjunkturkomponente der Schuldenbremse. Die Komponente sei so zu kalkulieren, dass die aktuelle Wirtschaftslage mit der Normallage ohne die durch die Energiekrise verursachten Verluste verglichen werde. Dies ermögliche für den Staatshaushalt 2025 eine Schuldenaufnahme von 34 Milliarden Euro. Das sind 24 Milliarden mehr als der aktuelle Haushaltsentwurf vorsieht.

Ob die Schuldenbremse damit ausgehebelt oder einfach nur kreativ erweitert wird, ist Ansichtssache. Mich beschleicht jedoch das Gefühl, dass es einmal mehr darum geht, das Instrument zur Kontrolle der Staatsverschuldung dem Schein nach aufrechtzuerhalten (niemand möchte als verschwenderischer Ausgabekönig dastehen), während gleichzeitig immer neue Begehrlichkeiten die Schuldenbremse in ihrer Essenz mehr und mehr unterminieren. Wobei sich gleichzeitig die Frage nach dem Zeitpunkt des Nutzens stellt. Denn etwas ketzerisch formuliert: Selbst wenn für 2025 neue Subventionen beschlossen werden sollten, ist es angesichts der deutschen Bürokratie nicht unwahrscheinlich, dass diese nicht wie geplant abfliessen, sondern stattdessen – Sie ahnen es – neue Ausgaberesten generieren.

Und die Lehre daraus…?

Und schliesslich löst auch eine Neuberechnung, bzw. Aushöhlung, bzw. Abschaffung der Schuldenbremse das grundsätzliche Problem der wachsenden Ausgaberesten nicht: Der Staat gerät einerseits in eine immer stärkere Finanzierungsnot, während anderseits der Umfang brachliegender Gelder immer stärker zunimmt. Das illustriert meiner Meinung nach deutlich, dass auch in Zeiten schnell wachsender Staatsausgaben eine höhere Schuldenaufnahme kein Allerheilmittel ist.

Dies sollte man auch hierzulande im Hinterkopf behalten, wenn das nächste Mal die Diskussion um die Schuldenbremse aufflammt. Statt den nächsten Generationen einen immer grösseren Schuldenberg zu hinterlassen, tun wir gut daran, in der Schweiz die schlanken Strukturen bei einer geringstmöglichen Bürokratie und einer höchstmöglichen Planungssicherheit zu bewahren. Nicht, dass Verzögerung und Verspätung zur Tagesordnung werden. Der Mahnfinger von «Stuttgart 21» reicht insofern durchaus über die deutsche Landesgrenze hinaus in die Schweiz.

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