«Spätestens mit 30 sollte man sich um die Vorsorge kümmern»

Die Altersvorsorge ist auch nach dem Ja zu den AHV-Vorlagen alles andere als gesichert. Jeannette Schaller, Expertin für Finanz­planung bei der Migros Bank, ­plädiert für mehr Bewusstsein bei diesem wichtigen Thema.

(Das Interview erschien am 10.10.2022 im Migros Magazin / Text: Rüdi Steiner, Kian Ramezani)

Die beiden AHV-Vorlagen wurden angenommen, für wie lange ist die erste Säule nun gesichert? 

Leider nur für ein paar Jahre. Ab 2027 ist wieder ein negatives Umlage­ergebnis zu erwarten. Das heisst, es wird weniger in die AHV eingezahlt, als Renten ausgezahlt werden. Nur dank der zu erwartenden Renditen des AHV-Fonds sollten wir diese Defizite auffangen können. Doch be­reits ab 2029 fällt das Gesamtergebnis in den roten Bereich, ein Opfer der demo­grafischen Entwicklung. Wir werden immer älter und beanspru­chen dadurch immer länger Renten.  

Müssen die Frauen nun mit viel ­weniger Rente auskommen, wie die Gegner der Vorlage behaupteten? 

Die Frauen werden nicht weniger ­Renten erhalten, sondern den Renten­anspruch statt mit 64 neu mit 65 er­reichen. Das betrifft alle Jahrgänge ab 1961. Bei den Jahrgängen 1961 bis 1963 wird das Rentenalter etappenweise um drei Monate erhöht. Die sogenannte Übergangsgeneration 1961 bis 1969 erhält Kompensationszahlungen je nach Einkommen und Jahrgang. 

Wie kann man sich absichern, wenn man wenig verdient? 

Grundsätzlich gilt: Je höher das Er­werbseinkommen, desto höher sind die zu erwartenden Leistungen. Aller­dings wird dies bei der AHV als erster Säule der Altersvorsorge entschärft, weshalb sie die sozialste von allen ist. Denn Wenigeinzahler*innen bekommen nicht viel weniger als diejenigen, die viel mehr einzahlen. Hinzu kommen die Erziehungsgutschriften für Eltern, die unabhängig sind vom Einkommen. Das schafft einen gewissen Ausgleich.

Aber nicht bei der zweiten Säule. 

Das ist richtig. Die Höhe der beruf­lichen Vorsorge hängt grundsätzlich stark mit dem Einkommen zusam­men. Hier gilt vor allem für Frauen: wenn möglich Pensen erhöhen und bessere Löhne aushandeln. Wer Spiel­raum hat, sollte zudem unbedingt auch eine dritte Säule, also die private Vorsorge, ins Auge fassen. 

Altersvorsorge zunehmend eine ­private statt staatliche Aufgabe?

Das liegt auf der Hand, da die Men­schen immer älter werden. Wir wer­den länger arbeiten müssen, das ist für mich unausweichlich. Das Renten­versprechen, dass erste und zweite Säule zusammen 60 bis 70 Prozent des letzten Einkommens sichern, wird nicht mehr erreicht. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als selbst zu ­sparen, um den gewohnten Lebens­standard weiterzuführen. 

Das Renten­versprechen, dass erste und zweite Säule zusammen 60 bis 70 Prozent des letzten Einkommens sichern, wird nicht mehr erreicht.

Haben Sie bei der Migros Bank den Eindruck, dass diese Erkenntnis bei den Menschen angekommen ist? 

Die Materie ist komplex, und in den Beratungen merken wir, dass nur ­wenig Wissen über die Vorsorge vorhanden ist. Manchmal auch ein wenig Resignation und viel Verunsi­cherung. Hier bräuchte es viel mehr Aufklärung, damit auch Durch­schnittsbürger*innen ihre Optionen für die Altersvorsorge kennen. Die meisten Leute, die für eine Finanzplanung zu uns kommen, sind «50 plus». 

Vor allem bei Wenigverdienenden schon fast zu spät, oder? 

Ideal wäre es, sich schon beim Eintritt ins Erwerbsleben damit auseinanderzusetzen, spätestens mit 30. Im Bewusstsein, dass es nicht reichen wird.  

Wie entstehen Lücken in der ­zweiten Säule? 

Am häufigsten, wenn jemand einen Lohnsprung macht, also plötzlich mehr verdient. Dann steigt auch der versicherte Lohn, der als Berech­nungsbasis dient, wie hoch im Alter die Leistungen ausfallen. Daraus entstehen Lücken für die Renten­finanzierung, die man durch zusätz­liches Einzahlen schliessen kann. ­Aktuell gibt es politische Bemühun­gen, solche Nachzahlungen auch in die dritte Säule zu ermöglichen, zum Beispiel nach einer Elternpause.

Diskutiert wird seit Längerem auch eine Reform der zweiten Säule, weil auch hier mehr ausgegeben als eingenommen wird. 

Da werden die Renten lebenslänglich nach einem fixen Betrag aus­gezahlt, der sich durch den sogenannten Umwandlungssatz berechnet. Dieser wiederum basiert auf der ­Rendite- und der Lebenserwartung. Dies führt dazu, dass die aktiven Arbeitnehmer*innen die Rentner*innen subven­tionieren. Und weil die Lebenserwartung steigt und die Anlage­möglichkeiten begrenzt sind, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Langfristig führt kein Weg an einer Senkung des Umwandlungssatzes vorbei.

Reicht das aus, um die Finanzierung der zweiten Säule sicherzustellen? 

Ich glaube, leider nicht. Solange die Renten ein Leben lang fixiert bleiben, wird das kaum reichen.

Aber welche Reform man auch ­anstösst: Wer bereits eine Rente ­bezieht, wird diese in der gleichen Höhe weiter erhalten.  

Genau darum drehen sich die Diskus­sionen über eine Flexibilisierung des gesamten Systems. Das heisst, den Umwandlungssatz müsste man an die tatsächliche Lebenserwartung und die Renditen anpassen können. 

Man müsste also auch Renten­bezüger zur Kasse bitten? 

Ja, fairerweise schon. Ein flexibles, nicht so starres System heisst ja nicht, dass es immer nur weniger gibt, es kann ja auch mal umgekehrt laufen, wenn beispielsweise die Börse gut läuft. Es gibt Firmen, die machen es bereits heute so. 

Was ist politisch realistischer: ­länger arbeiten oder monatlich ­weniger Rente beziehen? 

Wir brauchen mehr Flexibilisierung. Weniger starre Referenzalter, weniger fixe Umwandlungssätze. Und ­dadurch aber auch mehr Eigenverantwortung, sich mit seiner Vorsorge auseinander­zusetzen und ein für sich passendes Modell zu finden. 

Wir brauchen mehr Flexibilisierung. Weniger starre Referenzalter, weniger fixe Umwandlungssätze. Und ­dadurch aber auch mehr Eigenverantwortung.

Eine Frühpensionierung können sich heute nur Gutverdienende ­leisten, den Wenigverdienenden bleibt gar nichts anderes übrig, als lange zu arbeiten. 

Eine Frühpensionierung ist grund­sätzlich teuer. In der Bauwirtschaft kann man sich heute schon mit 60 pensionieren lassen, weil die körper­lichen Anforderungen so hoch sind. Es gäbe andere Berufsgruppen, etwa in der Pflege, wo dies auch sinnvoll wäre. Denkbar wäre auch der gestaf­felte Ausstieg aus dem Berufsleben, also mit Pensenreduktionen. So kann man auch die Vorsorge weiterführen.

Auf der anderen Seite: Wer über das offizielle Rentenalter hinaus arbeiten will, dem werden viele Hürden in den Weg gelegt. Und ältere Arbeitnehmende will niemand einstellen…

Viele werden tatsächlich schon vor dem ordentlichen Pensionierungsalter aussortiert. Wir müssten neue Berufs­bilder schaffen. Wir sind nicht bis ins höchste Alter maximal leistungsfähig. Ein Leben lang angeeignetes Fachwis­sen könnte man in Form von Beratung weitergeben. Wenn ich mit Unterneh­mern zu tun habe, darf ich das Wort Pensionierung nicht nennen. Sie sa­gen: «Das gibt es bei mir nicht. Ich liebe meinen Job und werde erst aufhören, wenn ich sterbe.» Wieder andere enga­gieren sich im karitativen Bereich.

Was empfehlen Sie den jungen Menschen, also den künftigen Rentner*innen? 

Es ist wichtig, sich mit der eigenen Vorsorge auseinanderzusetzen, und zwar so früh wie möglich. Wie bin ich versichert? Habe ich Lücken? Wo sind diese? Wie kann ich sie schlies­sen? Man sollte sich über die eigene Vorsorge genauso Gedanken machen wie über das eigene Budget – und sich die Pensionskassenauszüge, die man jährlich bekommt, gut ansehen. 

Wir sollten uns wirklich überlegen, ein Schulfach Finanzen einzuführen.

Wie kommen wir zu mehr Wissen und Bewusstsein in der eigenen ­Altersvorsorge?  

Wir sollten uns wirklich überlegen, ein Schulfach Finanzen einzuführen. Der Umgang mit Geld ist schliesslich etwas sehr Bestimmendes im Leben

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