Auf Nippons neuen Regierungschef wartet viel Arbeit. Die Exportindustrie leidet stark, und Japans Konjunkturaussichten sind so blass wie eh und je.
Japan hat sich im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19 besser geschlagen als viele andere Industriestaaten. Zu keinem Zeitpunkt musste Nippon bisher auf Massnahmen wie breit angelegte Einschränkungen der Mobilität oder einen vollständigen Lockdown zurückgreifen. Die Wirtschaft litt dennoch massiv. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) schrumpfte im zweiten Jahresviertel um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr – etwas mehr als in den Vereinigten Staaten (-9,1 Prozent), aber deutlich weniger stark als in der Europäischen Union (-15,3 Prozent). Im Vergleich zum regionalen Nachbarn Südkorea (-2,7 Prozent) traf die Corona-Krise Japans Wirtschaft allerdings viel schlimmer.
Schon vor Corona in der Rezession

Während die meisten führenden Volkswirtschaften vor der Corona-Pandemie ein solides, wenn auch leicht rückläufiges Wachstum aufwiesen, hält Japans Konjunkturschwäche bereits seit längerer Zeit an. Schon vor Corona war das Land in die Rezession gerutscht. Aufgrund der letztjährigen Mehrwertsteuererhöhung schrumpfte die Wirtschaftsleistung bereits im Jahresendviertel 2019. Und ausgerechnet in einer wirtschaftlich und geopolitisch ohnehin schwierigen Zeit musste Japan nun einen neuen Ministerpräsidenten ernennen. Denn der langjährige Regierungschef Shinzo Abe trat Ende August aus gesundheitlichen Gründen zurück. Sein Wirtschaftsprogramm mit aggressiver Geldpolitik, flexibler Finanzpolitik und Strukturreformen, auch «Abenomics» genannt, hatte der drittgrösste Volkswirtschaft der Welt nach Jahrzehnten in der Stagnation (geringes Wachstum gepaart mit niedriger Inflation) einen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht.
China und die USA im Fokus
Japans neuer Ministerpräsident Yoshihide Suga wird die Drei-Säulen-Strategie von «Abenomics» – kreditfinanzierte Konjunkturprogramme, Strukturreformen und eine lockere Geldpolitik – im Grossen und Ganzen weiterführen. Suga war Abes rechte Hand. Als Kabinettssekretär und Regierungssprecher war er massgeblich für die Umsetzung der Drei-Säulen-Strategie mitverantwortlich. Grössere politische Änderungen würden wohl nur dazu führen, dass sich die Unsicherheiten über Japans Wachstumsperspektiven verstärken.
Vor allem muss Suga nun auch die zunehmenden Spannungen zwischen den beiden grössten Handelspartnern – China und die Vereinigten Staaten – bewältigen. Zwar bestehen auch zwischen China und Japan unüberbrückbare diplomatische Differenzen, aber wirtschaftlich sind die beiden Länder stark miteinander verzahnt. Die Volksrepublik ist Japans grösster Handelspartner. Eine schwächere chinesische Nachfrage und Unterbrechungen der Lieferketten stellen daher viele japanische Unternehmen vor Probleme. Die USA wiederum sind Japans zweitwichtigster Exportmarkt. Eskalieren die Streitigkeiten zwischen Peking und Washington weiter, dürfte dies die japanische Wirtschaft unter Druck setzen.
Die Erholung der Auslandnachfrage ist ein wichtiger Schlüsselfaktor für Japans mittelfristige Wachstumsaussichten. Rund 19 Prozent des japanischen BIP entfallen auf den Export. Kurzfristig ist mit einem Nachholbedarf in Europa und den USA zu rechnen, wobei der Schwerpunkt vor allem auf langlebigen Konsumgütern liegen dürfte. Wegen der global schwachen Nachfrage sieht sich Nippons Aussenwirtschaft indes weiterhin mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Trotz der wirtschaftlichen Belebung seit Mai liegen das Exportvolumen und die Industrieproduktion weiterhin deutlich unter dem Vorjahresniveau. Insbesondere die Erholung der Ausfuhren von Investitionsgütern wie Maschinen dürfte eine beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen, da weltweit viele Fabriken nach wie vor unterausgelastet sind und weniger in Anlagen investiert wird. Der Gesundungsprozess des Exportsektors hängt dabei weitgehend vom weiteren Verlauf der Corona-Pandemie bei den weltweiten Wirtschafts- und Handelspartnern ab.
Industrieproduktion und Exportsektor leiden stark

Hoffnungen auf Olympische Sommerspiele
Die Binnennachfrage wird darum ein wichtiger Faktor für Nippons weiteren Erholungskurs sein. Japans Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Belebung ruhten lange Zeit auf den Olympischen Sommerspielen in Tokio. Die Olympischen Spiele müssen nun aber bis zum nächsten Sommer warten. Derweil verheisst Nippons zweite Welle von Coronavirus-Infektionen für die zweite Jahreshälfte nichts Gutes. Nach einer Erholung im Juni sind beispielsweise die Einzelhandelsumsätze im Juli erneut zurückgefallen.
Auf der Fiskalseite hat Japan umfangreiche Stimulusmassnahmen erlassen, die dem Wirtschaftswachstum in den nächsten Monaten Auftrieb verleihen sollen. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass die direkte Unterstützung durch zusätzliche Ausgaben und Einnahmeverzicht 11,3 Prozent des BIP beträgt und damit eine der höchsten im Rahmen der G20-Staaten ist. Die Migros Bank erwartet, dass die Ausgaben der Privathaushalte und die Unternehmensinvestitionen allmählich anziehen werden. Mittel- bis längerfristig dürften die fiskalischen Hilfspakete aber wohl nicht ausreichen, um Japans Wirtschaft auf einen selbsttragenden Wachstumskurs zu bringen.
Dazu bedarf es einer starken Aufhellung des globalen Umfelds, sprich: Es braucht weitere Fortschritte im Kampf gegen die Pandemie. Derzeit stehen die Aussichten relativ gut, dass schon bald ein Wirkstoff gegen Covid-19 vorliegen wird. Doch selbst dann dürfte Japan im internationalen Vergleich vergleichsweise langsam aus den Startlöchern kommen: Japans Gesellschaft altert stark und die Wirtschaft hat an internationaler Wettbewerbsfähigkeit eingebüsst.
Meistens verpufft
Auch ein Blick in die Vergangenheit lässt dies vermuten. Nach dem Platzen der Spekulationsblase am Aktien- und Immobilienmarkt Anfang der Neunzigerjahre hatte Japan unzählige Fiskalpakete lanciert und war eine expansive Geldpolitik gefahren. Abgesehen von einigen kurzen konjunkturellen Strohfeuern hat diese Politik allerdings nie wirklich nachhaltig funktioniert, vor allen dann nicht, wenn gleichzeitig die Exportwirtschaft schwächelte. Denn Japans vergleichsweise geringe Produktivität ist vor allem den starren Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen zuzuschreiben. Obschon die Wachstumsperspektiven mehrheitlich trübe sind wie eh und je, könnte die Corona-Krise in einigen Wirtschaftsbereichen aber eine Chance für Japan sein. So gilt das Land als Vorreiter in den Bereichen Robotik, Automation und künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence).
Während die Regierung zusätzliche Anstrengungen unternehmen wird, um den Wirtschaftsmotor anzukurbeln, werden sich die Staatsfinanzen allerdings verschlechtern. Japan weist schon heute im internationalen Vergleich eine rekordhohe Schuldenlast auf. Derweil wird die Bank of Japan (BoJ) ihre ultralockere Geldpolitik beibehalten. Niedrige Inflation und eine anhaltende Deflationsgefahr werden jedoch auf absehbare Zeit Schlüsselmerkmale der japanischen Wirtschaft bleiben.
Auch der Wechselkurs der japanischen Landeswährung Yen zum US-Dollar könnte künftig ein Gesprächsthema werden. Sollte sich der Yen nachhaltig zum Dollar auf ein Niveau unter 100 aufwerten, dürfte dies bei der BoJ zunehmend mit Unbehagen aufgenommen werden. Bei einem starken Yen müssen die japanischen Exporteure auf dem Weltmarkt Margeneinbussen hinnehmen oder die Preise anheben, was ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt.
Verhaltener Ausblick
Für das dritte Quartal 2020 erwartet die Migros Bank für Japan ein Wirtschaftswachstum von 3,8 Prozent gegenüber dem Vorquartal, gefolgt von einem leicht schwächeren Zuwachs von 1,5 Prozent im Jahresendviertel. Auf Jahresbasis dürfte Japans Wirtschaftsleistung 2020 indes -5,6 Prozent schrumpfen. Dank Basiseffekten, Nachholbedarf und der geld- und fiskalpolitischen Stimulierungsmassnahmen wird Japans Wirtschaftsleistung im nächsten Jahr zwar wieder um 3,2 Prozent wachsen, bleibt damit aber weiterhin unter dem Vorkrisenniveau.
Aufgrund der Unwägbarkeiten rund um die Corona-Krise sind diese Prognosen jedoch mit einigen Unsicherheiten behaftet. Schon jetzt zeichnet sich aber ab: Wie zuvor schon Abe wird auch der neue Premierminister Suga nicht darum herumkommen, Japan eine bittere Medizin in Form weiterer Strukturreformen zu verabreichen, damit der Wirtschaftsmotor nachhaltig auf Touren kommt.