Die Europäische Zentralbank hat die Tür zur geldpolitischen Straffung aufgestossen. Bei den mittel- und langfristigen Zinsen hat dies einen Aufwärtsschub ausgelöst. Leitzinserhöhungen sind absehbar – auch in der Schweiz.
Der Auftrieb der Energiepreise liess die Inflationsrate in der Eurozone im Januar von 5,0 auf 5,1 Prozent steigen. Weil verschiedene Sondereffekte mittelfristig wegfallen, dürfte die Teuerung in der zweiten Jahreshälfte spürbar sinken. Der Inflationsausblick bleibt jedoch unsicher – nicht zuletzt, weil die Lockerung der Covid-19-Schutzmassnahmen Europas Konjunktur zusätzlichen Schub verleihen wird. Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), sah sich im Februar deshalb veranlasst, die Tür zu einer Straffung der Geldpolitik aufzustossen. Die langfristigen Zinsen haben in der Folge stark angezogen.

Die EZB wird früher aktiv als erwartet
Lagardes Hinweis auf eine mögliche Leitzinserhöhung kam früher als erwartet, zumal die Kernteuerung in der Währungsunion mit 2,3 Prozent nach wie vor nahe dem langfristigen Inflationsziel der EZB notiert. Bislang hatte diese eine wesentlich zögerlichere Neuausrichtung der Geldpolitik in Aussicht gestellt und auf die temporären Inflationstreiber verwiesen, die sich im Laufe des Jahres abschwächen würden.
Die EZB dürfte zunächst die Anleihekäufe beenden – oder zumindest stark verringern. Den Leitzins (aktuell bei -0,5 Prozent) wird sie wohl erst in der zweiten Jahreshälfte anheben. Dies wird der Schweizerischen Nationalbank (SNB) ebenfalls Spielraum für Leitzinserhöhungen eröffnen. Die SNB wird voraussichtlich synchron mit der EZB handeln. Es wäre die erste geldpolitische Straffung der Schweizerischen Nationalbank seit zwei Jahrzehnten.
Kurzer Zinserhöhungszyklus
Die Leitzinsen werden in der Eurozone aber bei weitem nicht so stark steigen wie in den USA. Der rasante Anstieg der Energiepreise (vgl. Grafik) ist eine Folge der kräftigen globalen Nachfrage und der politischen Spannungen mit Russland. Auch die Lieferengpässe haben globale Ursachen – insbesondere den (zu) grossen Fiskalstimulus der US-Regierung, der einen massiven Anstieg des Privatkonsums zur Folge hatte. Diese Mechanismen kann die EZB nicht beeinflussen.
Hinzu kommt ein die Inflation dämpfender Basiseffekt im weiteren Jahresverlauf. Die Inflationsrate misst die Veränderung der Preise gegenüber der Vergleichsperiode des Vorjahres: Wenn sich die Energiepreise auf hohem Niveau nur schon stabilisieren, dürfte die Teuerung in der Eurozone bis in einem Jahr um rund 2 Prozentpunkte fallen. Sollten sie sogar nachgeben, wird der Rückgang der Teuerung umso grösser.
Leitzinserhöhungen werden dem Euro vermutlich Auftrieb verleihen. Eine stärkere Gemeinschaftswährung wird den Inflationsdruck im Euroraum ebenfalls mindern und das Wirtschaftswachstum hemmen. 2017/2018 hatte sich der Euro-Franken-Kurs zwischenzeitlich bis auf 1.20 erholt, nachdem der damalige EZB-Chef Mario Draghi eine geldpolitische Wende in Aussicht gestellt hatte. Aufgrund des Handelskonflikts, den die USA mit wichtigen Handelspartnern ausfocht, konnte die EZB den Leitzins jedoch nicht erhöhen. Die EZB ist auch jetzt im Dilemma: Sollte sich die Konjunktur ähnlich eintrüben wie 2019, würde dies die Bonitätsaufschläge der Peripheriestaaten in die Höhe treiben. Die EZB müsste wieder Gegensteuer geben.

Die Migros Bank erwartet deshalb, dass die EZB – und somit auch die SNB – die Leitzinsen nicht allzu weit anheben werden. Die EZB wird die Gunst der Stunde zwar nutzen, sie wird aber behutsam vorgehen müssen. Am Kapitalmarkt haben die langfristigen Zinsen einen wesentlichen Teil der bevorstehenden Aufwärtsbewegung der Leitsätze bereits vorweggenommen (vgl. Grafik). Die Franken-Zinskurve wird dadurch voraussichtlich flacher werden. Der gegenwärtige Inflationsschub sollte sich als weitgehend temporär erweisen. Die Teuerung dürfte aber etwas höher bleiben als vor der Krise.