Der heutige Nutzen wird dem zukünftigen oftmals vorgezogen. Dies erweist sich beim Klimaschutz immer wieder als problematisch – das zeigen aktuell die EU-Sanktionspläne gegen chinesische E-Autos. Ein Ausweg könnte in der positiven Zielformulierung liegen.
Kennen Sie kleine Kinder oder haben selbst welche? Dann versuchen Sie mal Folgendes: Schlagen Sie ihnen vor, entweder hier und jetzt ein Gummibärchen zu kriegen oder später – sagen wir in zwei Wochen – eine ganze Tüte voll davon. Ich gehe jede Wette ein, dass sich die Sprösslinge für das einzelne Gummibärchen von heute und nicht für die ganze Tüte der Zukunft entscheiden werden.
Analytisch betrachtet vermag diese Entscheidung indessen zu verwundern. Wird dabei doch ein kleinerer persönlicher Nutzen (einzelnes Gummibärchen) einem ungleich grösseren (eine ganze Tüte Gummibärchen) vorgezogen. Ja, ist man geneigt zu denken, es sind halt noch Kinder. Das Denken in Morgen und Übermorgen bildet sich erst mit einer gewissen Lebenserfahrung heraus. Die Höhergewichtung des Hier und Jetzt ist eben eine typische Ausprägung kindlicher Unbekümmertheit. Doch sind wir Älteren so verschieden, und läuft es in unserer Erwachsenenwelt tatsächlich anders ab?
Lieber den Spatz in der Hand
Ich bin mir da nicht so sicher. Ganz grundsätzlich ist uns das Gefühl vertraut, dass ein Nutzen in der Zukunft mit einer gewissen Unsicherheit behaftet ist. Redewendungen wie «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» zeugen vom intuitiven Verständnis dafür, was in der Mikroökonomie unter dem Konzept der Zeitpräferenz bekannt ist. Ganz allgemein wird dabei mittels einer sogenannten Diskontrate der subjektive zukünftige Nutzen dem subjektiven heutigen Nutzen gegenübergestellt. Fällt diese Diskontrate negativ aus, bevorzugen wir den heutigen Nutzen. Oder anders formuliert: Her mit dem einzelnen Gummibärchen!
Die Diskontrate – und damit die Präferenz des heutigen gegenüber des zukünftigen Nutzens – tendiert dazu, immer dann (stärker) negativ zu werden, wenn der zukünftige Nutzen vage ausfällt und weit in der Zukunft liegt und gleichzeitig der heutige Nutzen konkret und unmittelbar ist.
Heutiger Marktschutz…
Dies ist nicht bloss eine theoretisch-abstrakte Überlegung, sondern lässt sich im Politik- und Wirtschaftsgeschehen allenthalben beobachten und treibt zuweilen seltsame Blüten. Ein Beispiel dafür ist das aktuelle Säbelrasseln der EU-Kommission rund um die chinesischen Elektroautos, die auf dem Gebiet der EU verkauft werden. Die Kommission sieht den Markt regelrecht von chinesischen E-Fahrzeugen überflutet, deren Preise durch massive staatliche Subventionen künstlich verbilligt würden und so der europäischen Automobilbranche einen erheblichen Wettbewerbsnachteil zufügten. Dementsprechend prüft die Kommission die Erhebung von Anti-Dumping-Strafzöllen auf chinesischen Elektrofahrzeugen.
Alles wie gehabt, mag man nun denken. Dass die Politik heimische Industrien mit mehr oder weniger abenteuerlichen Begründungen zu schützen versuchen, ist ein offenes Geheimnis und spätestens seit Donald Trumps «America First» rund um den Globus salonfähig geworden.
…oder morgiger Klimaschutz
Zusätzlich zu diesen Überlegungen offenbart sich aber insbesondere vor dem Hintergrund des Umwelt- und Klimaschutzes auch ein Zeitpräferenz-Phänomen. So ist es unbestritten, dass Umweltschutzmassnahmen einen Nutzen in der Zukunft generieren werden. Es ist weiter unbestritten, dass eine solche Massnahme die Reduktion von Treibhausgasen ist, wie sie von Verbrennungsmotoren ausgestossen werden. Und es ist schliesslich unbestritten, dass Elektroautos weniger entsprechenden Emissionen verursachen.
Vor diesem Hintergrund drängt sich folgende Argumentationslogik auf:
- Je günstiger E-Elektrofahrzeuge sind, desto mehr werden sie von der breiten Masse gegenüber Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor bevorzugt.
- Je mehr Elektroautos die Verbrenner ersetzen, desto weniger Treibhausgase werden emittiert.
- Je weniger Treibhausgase ausgestossen werden, desto höher ist der (zukünftige) Nutzen durch die Eindämmung der Klima-Erwärmung
Ergo: Die chinesischen Elektro-Autos von heute sind gut fürs Klima von morgen.
So einfach ist es aber nicht, und hier kommen wir zur Herausforderung der Zeitpräferenz. Offenbar stellt die EU-Kommission den vagen und weit in der Zukunft liegenden Nutzen (Eindämmung der Klimaerwärmung) dem heutigen und unmittelbaren Nutzen (Schutz der eigenen Automobilindustrie) mit einer negativen Diskontierungsrate gegenüber, so dass das heutige Gummibärchen der zukünftigen Tüte vorgezogen wird.
Ein klassischer Effekt – in diesem Fall ein Problem – der Zeitpräferenz also. Losgelöst vom konkreten Beispiel der chinesischen Elektroautos, tritt dieses all zu oft auf, wenn es um Entscheidungen und Verhaltensänderungen im Sinne des Klimaschutzes geht. Etwa wenn wir den heutigen Nutzen von Flugreisen gegen den zukünftigen Umweltnutzen aufgrund weniger Flugzeugabgasen abwägen.
Irgendwann, vage und nicht mal exklusiv
Klimaschutzmassnahmen müssen also auch gegen ein Prinzip ankommen, dass wir seit Kindesbeinen an kennen und das wir in unserem Alltag intuitiv verinnerlicht haben (Sie wissen schon: «Lieber den Spatz in der Hand…»). Kommt hinzu, dass der zukünftige Nutzen in Form einer Eindämmung der Erderwärmung allen zugutekommt und nicht nur jenen, die heute auf einen kurzfristigen Nutzen verzichten – es gibt also Trittbrettfahrer. Oder um es in der Sprache der Kinder ausdrücken: Das Angebot lautet eigentlich. «Wenn du heute auf ein einziges Gummibärchen verzichtest, kriegst du irgendwann eine Gummibärchen-Tüte unbekannter Grösse, von der alle anderen Kinder auch naschen können.»
Dies ist in der Tat eine herausfordernde Ausgangslage. Sowohl für die – in der Regel auf die nächsten Wahlen schielende – Politik als auch für uns als Individuen. Deswegen in Resignation zu verfallen, erachte ich jedoch als zu pessimistisch. Denn es gibt viele Beispiele dafür, dass wir auch den zukünftigen gegenüber dem heuten Nutzen höher gewichten können – also eine positive Diskontrate zugrunde legen. Wir sparen, um uns in zehn Jahren Wohneigentum leisten zu können, wir verzichten auf die Tafel Schokolade, um im Sommer die Badehose-Figur zu haben, oder wir verzichten auf Ausgaben, um mehr Geld anlegen zu können, dass uns ein sorgenfreies Rentenalter ermöglicht.
Wir sind durchaus zum Verzicht bereit
Alle diese Beispiele haben zwei Dinge gemeinsam: Erstens ist der zukünftige Nutzen positiv formuliert. Wir verzichten heute, nicht weil wir etwas nicht (mehr) möchten, sondern weil wir etwas haben wollen. Zweitens ist der zukünftige Nutzen konkret. Dieser erlaubt uns letztlich eine saubere Diskontierung und im besten Falle ein Präferenzieren des Morgens gegenüber dem Jetzt.
Möchte man mehr Menschen, Verbände und Industriezweige vom Nutzen von Klimaschutzbemühungen überzeugen, sollte man folglich vielleicht weniger nur alarmitsisch davon sprechen, was man nicht möchte (keine Erwärmung über 1,5 Grad), sondern davon, wie genau der zukünftige Nutzen dieser Anstrengungen aussehen wird. Und man sollte reinen Wein einschenken, was die entsprechenden Kosten für die einzelnen Akteure anbelangt. Um bei den obigen Beispielen zu bleiben: Wir beginnen gar nicht erst zu sparen, wenn wir keinen Schimmer über die Kosten des Wohneigentums haben, wir verzichten nicht auf die Schokolade, wenn wir nicht zumindest ein ungefähres Zielgewicht erreichen wollen, und wir üben uns nicht in Konsumzurückhaltung, wenn wir nicht über eine ungefähre Vorstellung über die finanziellen Mittel verfügen, die wir nach der Pension gerne zur Verfügung hätten.
Wissen wir um das positiv formulierte Ziel und die hierfür nötigen Kosten, können wir als Individuen, aber auch als politische und wirtschaftliche Akteure eine Diskontierungsrechnung anstellen, die uns eine Gegenüberstellung des zukünftigen Nutzens von Klimaschutzmassnahmen gegen den kurzfristigen Nutzenverzicht abzuwägen. Ich bin zudem überzeugt davon, dass unter diesen Bedingungen auch das Trittbrettfahrer-Problem an Bedeutung verliert. Oder wenn wir zu den Kindern zurückkehren: Eine Tüte Gummibärchen ist was Tolles. Eine Tüte Gummibärchen gemeinsam zu verputzen, ist aber noch viel toller.
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