Cargo containers with European Union and British flags reflecting Brexit and restrictions in export and import

Grossbritannien im Alleingang

Der Brexit ist vollzogen, ein Handelsabkommen mit der EU unter Dach. Grossbritanniens Probleme sind aber noch nicht gelöst. Vor allem im ersten Quartal dürfte die britische Wirtschaft stark leiden.

Seit diesem Jahr gehen Grossbritannien und die Europäische Union (EU) endgültig getrennte Wege – nach einem mehr als vierjährigen Scheidungsdrama. Entgegen den ursprünglichen Befürchtungen (vertragslose Trennung) einigten sich London und Brüssel kurz vor Heiligabend aber auf ein Handelsabkommen. In der britischen Wirtschaft wurde diese Vereinbarung mit Erleichterung aufgenommen. Trotz der Einigung quasi in letzter Minute steht die britische Wirtschaft weiterhin vor grossen Herausforderungen. Viele Unternehmen sehen sich im Handel mit der EU mit neuen bürokratischen Hürden konfrontiert.

Kein vollständiges Freihandelsabkommen

Was teilweise als Freihandelsabkommen angepriesen wird, ist genauer betrachtet nur ein Handels- und Kooperationsabkommen, mit dem im Warenhandel gegenseitige Zölle abgewendet werden konnten. Es ermöglicht den zoll- und quotenfreien Handel mit Gütern, die bestimmte Ursprungsregeln erfüllen und die bilateral zwischen Grossbritannien und der EU gehandelt werden. 

Die Vereinbarung fiel ziemlich «dünn» aus, weil Grossbritannien die Wiederherstellung seiner «Souveränität» ins Zentrum der Verhandlungen stellte, während die EU die Integrität ihres Binnenmarktes verteidigte. Als Folge davon gibt es fortan mehr statt weniger Handelshemmnisse zwischen den beiden Wirtschaftspartnern. Die Bürokratie bei den Ein- und Ausfuhren zwischen den beiden Wirtschaftsräumen hat stark zugenommen. Die EU hätte die Vermeidung solcher nichttarifären Handelshemmnisse nur zugelassen, wenn Grossbritannien die Regeln des Binnenmarktes übernommen hätte.

Die EU ist Grossbritanniens grösster Handelspartner. 2019 beliefen sich die britischen Ausfuhren in die EU auf rund 294 Milliarden Pfund (43% der britischen Gesamtexporte). Die Einfuhren aus der EU betrugen rund 374 Milliarden. Pfund (52 Prozent aller Importe). Insgesamt ergab sich ein Handelsdefizit von 79 Milliarden. Pfund mit der EU. 

Dienstleistungssektor aussen vor

Die britische Volkswirtschaft ist allerdings stark dienstleistungsorientiert. Auf den Servicesektor entfallen rund 80 Prozent des britischen Bruttoinlandprodukts und 83 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Zu diesem Bereich enthält das Abkommen nur wenige Details. Zwar sieht die Vereinbarung einen Marktzugang für Dienstleistungen vor, der weitergeht als die Standardverpflichtungen der Welthandelsorganisation (WTO). Aber britische Unternehmen haben ihr Recht verloren, Dienstleistungen automatisch in der EU anbieten zu können. 2019 steuerte der Dienstleistungsbereich 42 Prozent zu den britischen Ausfuhren in die EU bei. 

Stark dienstleistungsorientiert

Graphic: Strongly service-oriented

Das trifft insbesondere britische Finanzdienstleister, die rund 25 Prozent zu Grossbritanniens Dienstleistungsexporten beitragen. Um Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten, müssen sich Unternehmen mit Sitz in Grossbritannien entweder auf die Gleichwertigkeit verlassen   oder die regulatorischen Anforderungen der einzelnen Mitgliedsstaaten erfüllen. Gleichwertigkeit ist aber kein Ersatz für die operativen Rechte, die britische Finanzhäuser unter dem sogenannten EU-Passsystem genossen haben. Die Gewährung von Gleichwertigkeit ist immer mit Unsicherheiten verbunden. Diese Äquivalenz-Entscheide können nach Ermessen der EU auch kurzfristig wieder entzogen werden. Alternativ können britische Banken, Wertschriften- und Fondshäuser Niederlassungen im EU-Raum gründen.

Alles in allem werden die Änderungen die britischen Dienstleistungsexporte in die EU wahrscheinlich für längere Zeit belasten. Womöglich wird der Sektor aber weniger stark leiden, als derzeit teilweise befürchtet wird. Das Vereinigte Königreich hat einen gewissen Wettbewerbsvorteil bei Dienstleistungen, weil es als wichtiger und grosser Handelsplatz vielfach bei der Preissetzung eine bedeutende Rolle spielt. 

Schaden begrenzt

Dass sich London ein Handelsabkommen für Waren sichern konnte, dürfte für die britische Regierung daher wichtiger gewesen sein. Denn die Handelsbilanz wies für 2019 in den bilateralen Beziehungen ein Defizit bei Waren auf, aber einen Überschuss bei den Dienstleistungen. Einem Plus von 18 Milliarden. Pfund beim Handel mit Dienstleistungen stand ein Minus von 97 Milliarden Pfund beim Warenverkehr gegenüber. Dank des Abkommens wird der Schaden für die Zahlungsbilanz begrenzt. 

Unmittelbar mildert der Deal auch die allgemeinen wirtschaftlichen Kosten, die mit dem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion einhergehen. Damit lässt der Druck auf die britische Notenbank nach, ihren Leitzins ebenfalls in den Negativbereich zu senken. Die Bank of England wird aber weiterhin die Negativzinspolitik der Europäischen Zentralbank aufmerksam verfolgen.

Das britische Pfund hat seit Jahresbeginn zugelegt

Chart:The British pound has gained since the beginning of the year

Weiterhin reichlich Gesprächsstoff

Absehbar ist, dass sich die Beziehungen zur EU weiterentwickeln werden. Der Brexit bedeutet nicht das Ende der bilateralen Gespräche. Eine neue Regierung könnte in Zukunft die Wirtschaftsbeziehungen zur EU bei Bedarf wieder vertiefen. Themenbereiche und Punkte, die nicht Gegenstand des gegenwärtigen Abkommens sind, können zu einem späteren Zeitpunkt verhandelt werden. Negative Überraschungen sind dabei aber nicht ausgeschlossen. 

Trotz des Abkommens mit der EU bleibt Grossbritannien ein politisches Gesprächsthema. Die gegenwärtige Regierung unter Premierminister Boris Johnson macht einen angeschlagenen Eindruck. Im Vereinigten Königreich scheinen sich zudem die Risse im Zuge des Brexit und der Corona-Krise vertieft zu haben. Es würde kaum überraschen, wenn Schottland und Nordirland die «Vorteile» des britischen Alleingangs weiter hinterfragen werden. Vor allem Schottlands Unabhängigkeitsbestrebungen könnten schon bald wieder verstärkt in den Vordergrund rücken.

Corona-Krise sorgt für Fehlstart

Kurzfristig dürfte die britische Wirtschaft mehr leiden als jene des restlichen Europas. Dies liegt vor allem daran, dass die Sektoren, die am stärksten von sozialen Aktivitäten abhängen (wie z.B. Freizeit, Gastgewerbe und Tourismus), in Grossbritannien einen grösseren Anteil an der Wirtschaft ausmachen als in den meisten anderen europäischen Ländern. Gleichzeitig sind diese Wirtschafszweige von der Corona-Krise am härtesten betroffen. Daher ist Grossbritanniens Bruttoinlandprodukt im vergangenen Jahr auch stärker eingebrochen als in den meisten EU-Volkswirtschaften. 

Ähnliches zeichnet sich für das erste Quartal 2021 ab. Im Januar sank der Gesamt-Einkaufsmanagerindex für Grossbritannien um fast zehn Punkte auf 40,6. Er fiel damit deutlich unter den Erwartungen aus. Das entsprechende Barometer für das Dienstleistungsgewerbe büsste knapp 10 Zähler auf 39,5 ein. Das verarbeitende Gewerbe expandierte zwar weiterhin, aber mit einem geringeren Tempo als im Vormonat. 

Dies deutet darauf hin, dass die britische Wirtschaft im Vergleich zu den anderen grossen Volkswirtschaften im ersten Jahresviertel wohl den stärksten Rückschlag erleiden wird. Der starke Rückgang ist grösstenteils auf die einschneidenden Restriktionen zurückzuführen, die aufgrund der mutierten Corona-Variante und der rapiden Verbreitung des neuen Virus im britischen Inselreich erlassen wurden. Zudem litt die Wirtschaft zu Beginn des Jahres unter Handelsbeschränkungen und tieferen Konsumentenausgaben.

Von der Corona-Krise hart getroffen

Graph: Hard hit by the Corona crisis

Im Zuge nachlassender Corona-Einschränkungen und eines sich normalisierenden Wirtschaftsalltags erwartet die Migros Bank aber, dass sich die britische Wirtschaft im Jahresverlauf erholen wird. Dank der Impfoffensive sollte die Wirtschaft ab April Fahrt aufnehmen. Grossbritannien ist dem Kontinent bei der Impfung der Bevölkerung einen grossen Schritt voraus. Die Aussichten für die zweite Jahreshälfte sind besser. Unser Szenario geht von einem Wirtschaftswachstum von rund 6,2 Prozent im Gesamtjahr aus. Die Wirtschaftsleistung dürfte jedoch frühestens im ersten Quartal 2022 ihr Vorkrisenniveau wieder erreichen.

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