«Eine Kreditklemme muss vermieden werden»

Die schnelle Ausbreitung der Corona-Pandemie hat die Wirtschaftswelt in einen Schockzustand versetzt. Wie werden sich die Weltwirtschaft und Finanzmärkte weiterentwickeln? Unser Chefökonom Christoph Sax erklärt im Interview, was es jetzt zu beachten gilt.

Herr Sax, welche Folgen hat die Corona-Pandemie für die Weltwirtschaft und die Aktienmärkte?

Auf Sicht der nächsten Monate sehr heftige. Im ersten und zweiten Quartal werden wir wohl einen mindestens gleich starken Konjunktureinbruch sehen wie bei der Finanzkrise von 2008/09. Weite Teile der Wirtschaft stehen gegenwärtig still, und der Privatkonsum bricht ein. Die langfristigen Folgen sind sehr ungewiss. Wir gehen in unserem Basisszenario aber davon aus, dass sich das Wirtschaftsleben ab Herbst normalisieren und die Weltwirtschaft relativ glimpflich davonkommen wird.

Sie erwarten eine rasche Erholung der Weltwirtschaft?

Unsere Einschätzung basiert auf der Annahme, dass das Virus nachhaltig eingedämmt werden kann. Es besteht allerdings die Gefahr, dass es sich erneut ausbreitet, sobald die staatlich verordneten Einschränkungen aufgehoben werden. Wir sind somit auf Fortschritte sowohl bei der Diagnose als auch bei der Behandlung der Krankheit angewiesen, sonst könnte der Personenverkehr auch nach Abklingen der Pandemie vielerorts begrenzt bleiben. Dies würde die Wirtschaft dauerhaft beeinträchtigen.

Kommt es im laufenden Jahr zu einer Weltrezession?

Auch wenn in der zweiten Jahreshälfte eine Erholung einsetzen sollte, ist es zunehmend wahrscheinlich, dass die Weltwirtschaft im Gesamtjahr 2020 stagnieren oder sogar schrumpfen wird. Es wäre erst der zweite globale Rückgang in der Nachkriegszeit.

Die Aktienmärkte bleiben also weiter unter Druck?

Die Aktienmärkte sind vorausschauend: Für Anleger ist entscheidend, wie sich die Unternehmensgewinne zukünftig entwickeln. An der Börse fehlt nach wie vor das Vertrauen, dass die Pandemie nur ein kurzfristiges Phänomen ist. Je länger die Wirtschaftskrise dauert, desto mehr Unternehmen geraten in Schwierigkeiten. Eine Erholung der Aktienmärkte ist somit noch nicht absehbar. Irgendwann wird es aber erste Signale geben, dass die Pandemie abklingt. Dann dürfte sich auch die Stimmung an den Finanzmärkten stark verbessern.

Und die Schweizer Volkswirtschaft?

In der Schweiz sieht es ähnlich aus wie auf globaler Ebene. Aufgrund des starken Konjunktureinbruchs in der ersten Jahreshälfte wird für das Gesamtjahr 2020 wohl ein negatives Wachstum resultieren – selbst wenn gegen Ende Jahr eine starke Erholung stattfinden sollte. Dies bedeutet aber nicht zwingend, dass auch die Arbeitslosigkeit stark steigt. Es handelt sich um einen temporären Schock, den die meisten betroffenen Firmen überwinden können, wenn ihnen der Staat unter die Arme greift, damit sie die Liquiditätsengpässe überbrücken können. Vor allem muss man auch kleinen und mittelgrossen Unternehmen zur Hilfe eilen.

Der Euro notiert zum Schweizer Franken nahe einem Mehrjahrestief. Die Eurozone ist für die Schweiz der wichtigste Absatzmarkt. Wie gut ist die Schweizer Exportwirtschaft aufgestellt, um die Währungssituation zu meistern?

Für viele Branchen ist die aktuelle Währungssituation mit einem EURCHF-Kurs von knapp über 1.05 zwar belastend, aber kein existenzielles Problem mehr. Die Schweizer Exportindustrie hat in den letzten Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um auch bei einer dauerhaften Euroschwäche gegenüber dem Franken wettbewerbsfähig zu bleiben. Für einige Industriezweige, beispielsweise für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, stellt das gegenwärtige Wechselkursniveau jedoch eine sehr grosse Herausforderung dar. Das grösste Problem ist zurzeit allerdings der Nachfrageeinbruch infolge der Corona-Krise.

Wie beurteilen Sie die Stützungsmassnahmen der Zentralbanken und die Konjunkturpakete der Staaten?

Eine stillgelegte Branche kann nicht mit Leitzinssenkungen gestützt werden. Genauso wenig kann damit im aktuellen Umfeld die Investitionstätigkeit begünstigt werden. Als Teil des Gesamtpakets sind sie dennoch wichtig. Es gilt, eine Kreditklemme zu vermeiden und die Liquiditätsversorgung im Finanzsystem sicherzustellen. Gleichzeitig müssen die betroffenen Unternehmen mit Notkrediten und weiterer finanzieller Hilfe unterstützt werden. Die Leitzinssenkungen werden vor allem den Aufschwung in der Erholungsphase verstärken.

Die Zinsen sind nun auch in den USA nahe der Nullgrenze. In weiten Teilen der OECD war das ohnehin schon der Fall. Was bedeutet eine Welt ohne Rendite für Investoren?

Wir haben weiterhin ein grosses Überangebot an Kapital. Mit ihren Staatsanleihenkäufen drängen die Notenbanken private Investoren in riskantere Anlagen wie Unternehmensanleihen mit längerer Laufzeit oder Aktien. Die Tendenz zur Blasenbildung wird anhalten.

Wie lange werden die Zinsen tief bleiben?

Wohl noch sehr lange. Denn weder die Realzinsen noch die Teuerung werden in den kommenden Jahren stark anziehen. Bei den Realzinsen ist das zunehmende globale Überangebot an Kapital der treibende Faktor, bei der Inflation die Globalisierung und die globalen Überkapazitäten. (vgl. Blogartikel «Negativzinsen für ein ganzes Jahrzehnt?»)

Stellt dieses Marktumfeld die Pensionskassen vor Probleme?

Für sie bleibt das Anlagegeschäft sehr herausfordernd. Die finanzielle Gesundheit der Kassen ist stark abhängig von den Finanzmärkten. Beim Einbruch der Aktienmärkte Ende 2018 ist der durchschnittliche Deckungsgrad von Schweizer Pensionskassen beispielsweise von 108,0 auf 102,7 Prozent gefallen. Dank des guten Börsenjahres 2019 wurde dies schnell wieder aufgeholt. Inzwischen dürfte dieser Wert aber noch tiefer liegen als Ende 2018. Wenn bald eine Markterholung stattfindet, ist dies kein Problem. Wenn nicht, werden die Rentenversprechen zusätzlich unter Druck geraten. In einzelnen Fällen könnten auch Sanierungsmassnahmen notwendig werden.

Wird der Corona-Schock die Globalisierung infrage stellen?

Es ist möglich, dass Grossunternehmen wieder etwas häufiger lokal produzieren werden und dass dadurch etwas Teuerungsdruck entsteht. Ich denke aber nicht, dass die Globalisierung grundlegend infrage gestellt ist – auch wenn der Protektionismus tendenziell zunimmt. Einerseits stellt ein weltweiter Schock wie die Corona-Krise ein sehr seltenes Ereignis dar. Andererseits stehen unsere Unternehmen in einem globalen Wettbewerb. Sie werden auch weiterhin versuchen, ihre Wertschöpfungsketten über die Grenzen hinweg möglichst wirtschaftlich auszugestalten. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang aber mehr Nachhaltigkeit über den gesamten Produktionsprozess. Hier müssen die Staaten auf multilateraler Ebene unbedingt Fortschritte bei der Regulierung erzielen.

Hat sich die Anlagepolitik der Migros Bank im Zuge des Corona-Crashs geändert? Wie schaut die taktische Ausrichtung aus?

Wir haben bereits am 6. März eine erhebliche Reduktion unserer Aktienquote bei den Vermögensverwaltungsmandaten beschlossen, weil sich schwerwiegende Konsequenzen für die Wirtschaft abzeichneten. Seither sind wir bei Aktien stark untergewichtet. Der Cash-Bestand ist im Moment sehr hoch. Bei Alternativen Anlagen sind wir ebenfalls übergewichtet. Hier setzen wir v.a. auf Immobilienanlagen, Hedge Funds und Gold.

Viele Aktien waren im historischen Vergleich sportlich bewertet. Sind die Bewertungen nun auf einem vernünftigeren Niveau angelangt?

Das kommt ganz auf die Perspektive an. Wenn die Wirtschaft gegen Ende des Jahres wieder zum Tagesgeschäft übergehen kann, sind die Bewertungen inzwischen sicherlich sehr attraktiv. Das Problem ist zurzeit die Visibilität: Wie verlässlich sind die heutigen Gewinnprognosen der Unternehmen und der Analysten? Keiner weiss, wann genau die Pandemie abklingen wird und ob sie nicht doch nochmals zurückkommt. Wir gehen davon aus, dass in den meisten Sektoren weitere Abwärtsrevisionen bei den Gewinnprognosen kommen werden.

Gold ist in unsicheren Zeiten als sicherer Hafen gesucht. Welches Potenzial offeriert das gelbe Edelmetall noch?

Gold hat in den letzten Wochen nachgegeben – unter anderem, weil Anleger im Zuge des Aktiencrashs auch Gold verkaufen mussten, um liquide zu bleiben. Mittelfristig dürfte Gold aber von der gegenwärtigen Situation profitieren: Die Zinsen sind im Keller, die Gefahr einer Finanzkrise hat sich erhöht und die Konjunkturaussichten sind unsicher.

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