«Wer das Risiko scheut, sollte jetzt stillhalten»

Inflation macht das Anlegen zur grossen Herausforderung. Doch Risikofreudigen mit langem Anlagehorizont bietet sie Chancen, sagt Christoph Sax, Chefökonom der Migros Bank.

(Das Interview erschien am 20. Juni 2022 im Migros Magazin / Text: Benita Vogel)

Die Inflation ist in der Schweiz auf den höchsten Stand seit 2008 gestiegen. Das Geld verliert an Wert. Wie stark betrifft das mein Sparbuch?

Die Inflationsrate lag im Mai bei 2,9 Prozent. Verglichen mit dem Vorjahr, haben sich unsere Lebenskosten um diesen Prozentsatz verteuert. Gleichzeitig liegen die Sparzinsen noch nahe bei Null, weil sie sich am Leitzins der Schweizerischen Nationalbank (SNB) orientieren. Somit betrug die Geldentwertung in den vergangenen 12 Monaten rund 2,9 Prozent.

Wie lange geht das so weiter?

Die Situation dürfte sich im kommenden Jahr entschärfen. Die SNB wird den Leitzins bis dahin weiter anheben, um die Teuerung einzudämmen. Die Sparzinsen werden deshalb wohl schon bald steigen, gleichzeitig dürfte die Teuerung sinken. Die Differenz zwischen Zinsen und Teuerung wird so geringer, die Geldentwertung weniger hoch.

Was tue ich mit Geld auf dem Sparkonto, das dort im Moment an Wert verliert, statt an Wert zu gewinnen?

Das kommt darauf an, wie viel Risiko man bereit ist einzugehen. Für Anleger*innen, die Risiko mögen und einen langfristigen Horizont haben, bietet die gegenwärtige
Situation Einstiegschancen.

Wirklich? Die Kurse an den Börsen spielen verrückt und gehen vor allem runter.

Die Börse hat sich von jedem Rückschlag früher oder später erholt. Wichtig ist, dass man breit anlegt. Durch die Kursverluste in den vergangenen Monaten
sind bestimmte Aktien viel günstiger geworden. Besonders unter Druck geraten sind die Titel von wachstumsstarken Firmen, beispielsweise im Technologiebereich. Hier haben sich zahlreiche Aktien im Wert halbiert. Dieser Kursrutsch hat die Straffung der
Geldpolitik schon vorweg genommen. Bei vielen dieser Firmen hat sich an den langfristigen Gewinnaussichten allerdings nur wenig geändert. Auch die Industriefirmen sind gut ausgelastet. Sie haben Reserven, um die absehbare Abkühlung der Wirtschaft und eine zwischenzeitliche Phase mit höherem Kostendruck zu überdauern. Die globale Nachfrage mag etwas einknicken, sie wird aber kaum wegbrechen.

Breit anlegen ist einfach gesagt. Wie geht das konkret?

Hier bietet sich beispielsweise ein Fondssparplan an. Man zahlt jeden Monat einen fixen Betrag ein, wodurch man das Abwärtsrisiko an den Börsen etwas glättet. Sogenannte Strategiefonds sind breit aufgestellt mit Aktien, Anleihen, Immobilien und mit anderen Anlageklassen.

Wieso nicht auf eigene Faust in einzelne Aktien investieren?

Wer auf wenige Einzeltitel setzt, geht unnötig hohe Verlustrisiken ein. Aber wer gerne einige Liebhaberaktien in seinem Depot hat, kann das als Beimischung in einem beschränkten Umfang tun. Wichtig ist, dass der Kern des Portfolios breit diversifiziert bleibt. Bei der Wahl ergänzender Einzeltitel sollten die Aktien von fundamental starken Firmen im Fokus stehen.

Rohstoffe sind Mangelware und sehr teuer. Wie können Anleger*innen davon profitieren?

Für Privatanleger*innen empfiehlt sich die Investition in einen breit gefassten Fonds oder einen sogenannten Exchange Traded Fund (ETF). Hier gibt es eine Fülle von Produkten, die nicht alle gleich gut geeignet sind. Es kann sich deshalb lohnen, bei der Wahl eine Bankberaterin oder einen Bankberater beizuziehen. Zudem stellt sich die
Frage, welche Rohstoffkategorien man abdecken möchte und welche lieber nicht. Man sollte jedoch nur in Rohstoffe investieren, wenn man einen weiteren Anstieg der Preise erwartet.

Gibt es mit teuren Energie- und Rohstoffpreisen, den angespannten Lieferketten und dem Ukraine-Krieg nicht mehrere Damoklesschwerter beim Anlegen?

Die Lieferketten sind vor allem wegen der Pandemie und des massiven Konsumbooms in den USA so angespannt. Dies normalisiert sich aber zusehends. Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums infolge des Rohstoffpreisschocks hat diesbezüglich auch eine positive Seite. Die Lage wird sich sowohl bei den Lieferfristen als auch den Einkaufspreisen entspannen. Auch der Ölpreis dürfte sich stabilisieren, wenn die globale Nachfrage sinken wird. Schwer abzuschätzen bleibt aber der Kriegsverlauf in der Ukraine. Die geopolitische Krise ist die grösste Belastung.

Kein Wunder also, wenn Kleinanleger*innen angesichts dieses Risikos am liebsten aussteigen möchten.

Das ist nicht zu empfehlen. In so volatilen Zeiten ist die Gefahr gross, dass man zum falschen Zeitpunkt aussteigt und danach den richtigen Zeitpunkt zum Wiedereinstieg verpasst. Dann fährt man langfristig schlechter. Wichtig ist, dass man keine Klumpenrisiken eingeht und wie erwähnt breit diversifiziert.

Was also sollen vorsichtige Sparer*innen und und Anleger*innen tun?

Die Nervosität an den Börsen bleibt hoch. Deshalb sollte jetzt stillhalten, wer das Risiko scheut. Wer seine Ersparnisse auf dem Sparkonto hat und kein Risiko eingehen möchte, hält sie wohl besser dort. In der Schweiz haben die Phasen der negativen Realzinsen meist nur wenige Jahre gedauert. Wenn die Leitzinsen weiter steigen, wird sich diese Problematik abschwächen.

Mit steigenden Zinsen werden Unternehmens- und Staatsanleihen wieder interessanter. Wäre das nicht eine Alternative für Risikoscheue?

Obligationen haben grundsätzlich an Attraktivität gewonnen. Die Phase steigender Zinsen ist aber noch nicht abgeschlossen. Deshalb muss man bei Anleihen weiterhin mit Kursverlusten rechnen. Und auch hier ist die reale Verzinsung wichtig. Eine
langfristige Schweizer Staatsanleihe mit 10 Jahren Laufzeit bringt eine Verzinsung von gut 1,4 Prozent, bei einer Inflationsrate von 2,9 Prozent bleibt nichts mehr übrig – auch falls die Inflation in den kommenden Jahren deutlich sinken dürfte.

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